Studienfahrt der Leistungskurse Deutsch und Geschichte nach Kreisau vom 9. bis 14.09 2001
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On The Road Again – Beobachtungen am Wegesrand



 

Das Weckerklingeln einer Armbanduhr. Im Zimmer herrscht ein diffuses Halbdunkel. Durch von allerhöchstens drei Stunden Schlaf wenig ausgeruhte Lider erspähe ich meine Zimmergenossen Marius und Philipp. Draußen bricht ein neuer Tag an. Es ist Montag, der 10. September 2001.
Mühsam rappeln wir uns auf. Duschen, Waschen. Doch die Müdigkeit will noch nicht weichen. Um halb neun zum Frühstück runter. Brötchen, Kaffee, schwarzer Tee. Langsam werden wir wach.
Mit Regenjacken und dicken Pullovern ausgerüstet, versammeln wir uns vor unserem Bus. Es ist kalt und feucht; Wolken hängen schwer am Himmel. Ein leichter Wind kommt auf und weht uns vom Schloss her Nieselregen in die Gesichter.

Pünktlich um neun Uhr brechen wir auf. Man muss zeitig los fahren, wenn man so viel vor hat wie wir heute. Busfahrer Josef führt uns zunächst nach Swidnica, der nächsten größeren Stadt im Umkreis. Der Bus hoppelt über Kopfsteinpflaster und Schlaglöcher. Rechts und links verfallende Häuserfassaden. Der Putz bröckelt von den Wänden. Im Zentrum sind einige Fassaden renoviert. Rechts durchs Fenster zu sehen, auf einer Anhöhe: Artillerie-Geschütze aus dem zweiten Weltkrieg. Wahlkampfwerbung ziert Bäume und Plakatwände. Wir halten an einem kleinen Omibusbahnhof.
Geldtauschen war bisher nicht möglich gewesen. Und Zlotys dürfen auch nicht nach Polen eingeführt werden. Dementsprechend begeben wir uns schnell in Richtung des nächsten »Kantor«, einer Geldwechselstelle. Viel Zeit bleibt allerdings nicht, denn unser Programm zwingt uns zur Eile. Um Zeit zu sparen, versuchen wir Gruppen zu bilden, damit nicht so viele Einzelpersonen Geld tauschen müssen. Es dauert trotzdem eine ganze Weile, bis auch der Letzte den Kantor wieder verlassen hat. Draußen warten die anderen, in Wind und Wetter. Die Ersten laufen zur Apteka, um Medikamente gegen Husten, Schnupfen und weitere Erkältungssymptome zu kaufen.

Um zehn Uhr verlassen wir Swidnica wieder. An der Ortsausfahrt liegt links die amerikanische Botschaft: ein Mcdonald’s Drive-In. Heute löst das noch Heiterkeit aus, morgen Nachmittag schon nicht mehr.
Wir fahren eine Allee entlang. Rechts und links der Straße Felder, Wälder, kleine Gehöfte mit Gänsen und Kühen. Weiler und kleine Dörfer huschen vorbei. Ein Bauer steht am Straßenrand. Er trägt Holz. Der Himmel ist grau und verhangen.
Es wird hügeliger, je weiter wir fahren. Der Regen prasselt jetzt gegen die Windschutzscheibe und schlägt aufs Gemüt. Wasserschwaden steigen von dem Lieferwagen auf, der vor uns fährt. Die Straßen sind baufällig. Manchen von uns wird schlecht.
Auf den Straßenschildern lesen wir seltsame Namen: Jelenia Góra, Jakuszyce, Zgorzelec. Von links tauchen Plattenbauten auf; mal fünf, mal zwölf Etagen. Grau sind sie. Einzige Farbtupfer sind die bunten Vorhänge.
Stau an einem Bahnübergang. Ein Lkw hat sich quergestellt. Später dann erscheint das Riesengebirge am Horizont. Nebel lastet schwer auf den Hängen. Es wirkt dunstig, feucht, unwirklich. Die schmale Straße windet sich den Hang hoch; eimertiefe Schlaglöcher erschweren unserem Bus den Anstieg.

Gegen zwölf Uhr erreichen wir Agnetendorf und besichtigen jenes Gemäuer, in dem einst Gerhard Hauptmann wohnte. Eine Frau Koppel übernimmt für uns die Führung durch die Ausstellung, die sich im Innern des Hauses befindet. Interessierte können hier einiges über die Lebensgeschichte und den Werdegang Gerhard Hauptmanns in Erfahrung bringen.
Mit seinen Türmen und Erkern ist das Haus einer Burg nicht unähnlich. Der Baustil wurde eigens von Hauptmann entwickelt. Betritt man das Gebäude, so wird man sogleich von der breiten und hohen Eingangshalle überwältigt, fast erdrückt. Bunte Wände und ein Sternenhimmel im Gewölbe unter der Decke. An den Wänden tauchen aus einem paradiesischen Garten Personen aus Hauptmanns Familie und aus seinen Werken auf. Engel jubilieren. Das letzte Abendmahl wird gefeiert.
Weiter im Innern des Hauses betreten wir eine Galerie. Bilder und alte Bücher, ein Flügel steht in einer Ecke. Lipp & Sohn, Stuttgart. Der nächste Saal ist holzgetäfelt. Unsere Schritte hallen vom Parkettboden wider.
Sogar heute steht das Haus noch einsam und verlassen an einem Hang. Kein Wunder, dass Hauptmann es gerade hier errichten lies, um der Außenwelt entfliehen zu können. Allerdings soll er sich mit diesem immens teuren Bauwerk etwas übernommen haben, so unsere Führerin.
Als wir die Ausstellung verlassen, betritt gerade eine Schar Rentner die große Halle.

Da wir schlecht in der Zeit liegen, lassen wir ein weiteres Hauptmann-Haus und einen Wasserfall links liegen. Wir kommen im Bus an einem Stausee vorbei. Die Flüsse neben der Straße führen eine dunkele Brühe, braun vom Erdreich.
Um halb zwei erreichen wir Karpacz, einen bekannteren Touristenort. Hier wird im Winter Ski gefahren. Und hier wollen wir unseren Hunger stillen. Wir unternehmen viele vergebliche Versuche, in überfüllten kleinen Lokalen Plätze zu bekommen. Für so große Gruppen wie wir es sind, hat man keinen Platz. Schließlich, nach längerer Suche: Essen in einem polnischen Fast Food-Restaurant, »Mieszko» heißt es. Wir essen Hamburger und Cordon Blue aus der Mikrowelle. Das Mädchen an der Kasse hat nicht genug Kleingeld, Bestellung und Bezahlen laufen ab mit Hilfe von Rafael, der als Dolmetscher fungiert.

Um 15 Uhr brechen wir wieder auf und erreichen eine Viertelstunde später unser nächstes Ziel: Die Wang-Kirche. Im Bus schon durch Rudi Leismann aufgeklärt, wissen wir bereits, was uns erwartet. Im 12. Jahrhundert in Norwegen erbaut. Eine Stabkirche. Aus Holz also. Schnitzereien aus der Wikingerzeit. Von Friedrich Wilhelm IV von Preußen vor dem Abriss gerettet, zerlegt und nach Schlesien importiert. Nur noch 30 Kirchen dieser Art existieren weltweit.
Ein kurzer, steiniger Wanderweg führt uns zur Kirche. Herr Leismann wandert in Birkenstock-Sandalen. Bald erblicken wir dunkelbraunes Holz durch die dunklen Tannen des Waldes. Wir haben uns für eine Führung angemeldet. Die beginnt erst in einer dreiviertel Stunde. Wir stehen, sitzen im kalten Wind. Es regnet nicht mehr. Hinter der Kirche: Grabsteine mit deutschen Namen. Endlich werden wir eingelassen und lauschen einer monotonen Stimme vom Band. Ein Mann tritt ein und beschreibt die Schnitzereien im Nordportal: Wir erblicken eine Schlange mit Kopf, Rumpf und »anderen Teilen».
Auf dem Rückweg bemerken wir: Wir sind nicht vollzählig. Wie sich am Bus herausstellt, hatte eine kleine Gruppe um Tobias das Ziel nicht gefunden und hatte vor lauter Verzweiflung den nächsten Hügel bestiegen und dort angeblich eine einmalige Aussicht genossen, während wir Gelegenheit hatten, uns kulturell weiterzubilden.
Beim »Nachbar-Check» im Bus zählt Artur Weinhold zum ersten Mal mehr Teilnehmer, als anwesend sein sollten, woraus man schloss, dass ausnahmslos alle anwesend sein mussten. So ungefähr zumindest.

Ab halb fünf dann die Rückfahrt. Ein verlassener Güterbahnhof und überwucherte Gleise. Ein alter verrosteter Verladekran. Ein Fußgänger am Fahrbahnrand weist uns den Weg. Der Weg führt durch Einöde, die Straße wird immer schmaler. Unsere freiwillige Begleiterin Juliane hat jetzt die Führung übernommen. Die Straße führt in den Wald. Bald liegt ein Baum halb auf der Straße, doch das hält unseren Fahrer Josef nicht auf. Zweige der Baumkronen peitschen auf beiden Seiten gegen die Scheiben.
Doch wenig später werden wir erneut aufgehalten. Gegen 18.01 Uhr scheint unser Schicksal besiegelt: Vor uns endet die Straße in einer Baustelle. Mitten im Wald. Keine Wendemöglichkeit.
Wir setzen den ganzen Weg zurück durch den Wald. Doch wie sollen wir rückwärts an dem Baum vorbei, der auf die Straße ragt und den wir vorwärts schon kaum passieren konnten?
18.04 Uhr. Links der Straße liegt eine Lehmkuhle. Josef versucht, den Bus rückwärts hineinzuzwängen. Das ist die einzige Möglichkeit, hier zu wenden. Nach mehrmaligem Vor-und-zurück und Rudi Leismanns Dirigieren von Außen haben wir gegen 18.10 Uhr wieder freie Fahrt. Am Ausgangspunkt der Straße entdecken wir ein Sackgassenschild. Leider zu spät.
18.30 Uhr. Wir bemerken, dass unser Abendessen langsam in Gefahr gerät, wenn wir nicht bald zurück sind. Josef gibt Gas.
Wer bremst, hat Angst, und Josef drängt in einer engen Kurve einen kleinen entgegenkommenden Lada ins Stoppelfeld neben der Straße ab. »Was die Deutschen mit ihren Panzern nicht geschafft haben, das versuchen sie jetzt mit dem Reisebus.« In diesem Wortlaut wird uns Herrn Weinholds Deutung des Vorfalls überliefert.
18.35 Uhr. Josef drängelt hinter einem Ford Fiesta. Wir lesen die TÜV- Plakette ab; nahe genug dran sind wir schon. Ein gewagtes Überholmanöver vor einer Hügelkuppe schließt sich an.
Wenige Minuten später erreichen wir das Gut Kreisau, eine Oase in der umliegenden graugrünen Weite aus Ackerland, Bauernhöfen und Regen. Das Tor ist zu. Will man uns nicht einlassen? Doch, sicherlich. Und Abendessen bekommen wir auch noch.
Doch schon eine dreiviertel Stunde später, am halb acht, versammelt sich die Schülergruppe in einem im Schloss befindlichen Raum unterm Dach, um dort den Tag noch einmal Revue passieren zu lassen. Uns werden weitere Informationen zur Geschichte Polens, insbesondere Fakten über Kreisau und Breslau, zuteil. Auch Wirtschaft und Bevölkerung werden uns nahegebracht. Der nächste Tag wird geplant. Anschließend wird noch eine Ausstellung in den Sälen des Schlosses besichtigt, die sich mit der Geschichte des Kreisauer Kreises befasst. Große Tafeln zeigen die Bilder jener, die sich gegen den Machtapparat der Nationalsozialisten erhoben und die es mit dem Leben bezahlten, dass sie für ihre eigenen Ideale einstanden anstatt wie so viele ihre Seele an die NS-Ideologie verkauften.

Viele hält es aber nicht mehr allzu lange in den Ausstellungsräumen. Man hat schließlich noch in Karinas Geburtstag am Dienstag hereinzufeiern. Also ab in die Bar, so lange sie noch offen hat. Fünf Zloty der halbe Liter Bier. Das sind 2,50 DM. Das lassen wir uns nicht entgehen. Ein Raum zum Feiern ist schon im Vorfeld organisiert worden. Er liegt neben dem Billardkeller. CDs werden herbeigeschafft, CD-Player ebenfalls.
Darüber, wie viel Spaß man am Ende bei der kleinen Festlichkeit hat, lässt sich mit Sicherheit streiten, da die Meisten dann doch lieber Billard spielen als in einem kalten, leergeräumten Raum zu tanzen.
Doch wer dem hochprozentigen Bier gut zuspricht, der wird unter Garantie nicht zu denen gehören, die vor drei Uhr in ihre Betten sinken. Um wenigstens ein paar Stunden Schlaf zu bekommen, die einem dann helfen, den Dienstag mit offenen Augen zu überstehen.

– Jan Stepic