| Samstag, den 13. Juli 1991 Der Tag ist schon morgens recht warm, wird aber wohl nicht ganz so heiß wie der Freitag. Frühstück gibt es kurz nach acht Uhr, serviert und abgeräumt von der Tischdienst-Gruppe Nr. 4, bestehend aus Martin, Vanessa, Murat, Julia Walter, Alexandra, Sonja und Stefanie. Die Gruppe spült auch. Nach dem Frühstück werden die Lunchpakete geschmiert. Protest kommt auf während des Frühstücks bei der Ankündigung des Fahrtleiters, daß der abends zuvor ins Auge gefaßte Plan verworfen werden müsse, die Gruppe zweizuteilen in eine schnellere und eine langsamere. Als Gründe hierfür nennt der Fahrtleiter: Erstens sei die Aufsicht über zwei unterschiedlich fahrtüchtige Gruppen problematisch. In der Gruppe mit den schnelleren, erfahreneren, mit größerer Streckenkenntnis ausgestatteten Radlern verringerten sich die Risiken stark, während sie sich in der langsameren Gruppe übermäßig erhöhten. Zweitens bedeute die Teilung der Klasse ganz zweifellos die Aufgabe des Lernziels Solidarität und Rücksichtnahme in der Klassengemeinschaft, und zwar in beide Richtungen: Die fahrerisch belastbareren Schülerinnen und Schüler könnten sich in einer starken Gruppe ausschließlich dem Verfolg einer bloß körperlichen Leistung hingeben, und die langsameren könnten sich in einer »schlapperen« Teilgruppe noch mehr gehen lassen als in einer gemischten Gruppe, in der auch sie Verantwortung für zügiges Fortkommen trügen und Selbstdisziplin üben müßten. Wir verlassen Groß Reken um 10.00 Uhr, nachdem Murat Uyman und ein paar weitere technisch versierte Radler in kürzester Zeit eine Reifenpanne an Franziska Kochs Rad durch kompletten Ausbau des Hinterrades und Austausch des Schlauches repariert haben. Vor der Abfahrt gibt Thomas Jochlik aus Anlaß seines Geburtstages noch eine Runde Eis aus. Schließlich schießt der Fahrtleiter noch ein gemeinsames Foto, zu dem er die Schüler in einem langen Bogen vor dem Haupteingang der Jugendherberge arrangiert: alle Radler der Klasse 8b in einer Reihe, ready for take-off. Nach einer Stunde Fahrt zeigt sich der erste Kräfteverschleiß bei zwei, drei Mädchen, und erneut wird die Gefahr sichtbar, daß sich die Klasse in zwei unterschiedlich schnelle Gruppen teilt. Um das für den Rest der Strecke endgültig zu unterbinden, ordnet der Fahrtleiter in einem seiner seltenen einsam-autoritären Entschlüsse die letztlich erfolgreiche Fahrtkonfiguration an: Als Tempogeber fahren ein oder zwei erschöpftere, langsamere Schülerinnen an der Spitze vorneweg (zunächst nur Alexandra Wientzek, wenig später auch Julia Seibert, die sich schon einige Zeit nicht sehr wohl fühlt, deshalb auch schon länger am Schluß radelte und nun Alexandra offenbar nicht so allein der Gruppe voranradeln lassen will ein schöner Beweis praktischer Solidarität), dazu ein Schüler mit Streckenkenntnis (Thomas Jochlik), gefolgt vom Fahrtleiter, der das Arrangement gegen überholwütige Heißsporne sichert; es folgen im Abstand von einer oder zwei Radlängen alle anderen Schüler; ganz am Schluß die Fahrtbegleiterin zur Sicherung des Kolonnenschlusses. Der gewünschte Effekt tritt ein: Von den angeblich »Schlapperen«, die vorn das Tempo vorgeben, mault die eine zwar zunächst, weil sie dem Gruppendruck, halbwegs flott zu fahren, erst einmal meint nicht genügen zu können (»Sie wollen mich wohl fertigmachen!«). Bald aber identifiziert sie sich mit der Aufgabe, und die Mädchen beginnen langsam, das Tempo so zu steigern, wie sie können. Im konkreten Fall verbessert sich auch sichtbar die Laune (das heißt, die Motivation und das Selbstwertgefühl) der Tempogeberin. Julia Seibert erkennt und formuliert selbst hellsichtig, Alexandra habe beim Fahren an der Spitze allmählich »Ehrgeiz« entwickelt. Allerdings muß allgemein gesprochen einem angeblich »schlappen« Schüler der praktische Beweis, daß er durchaus nicht »schlapp« ist, nicht unbedingt gefallen denn die Rolle des »Schlappen« hat auch ihre attraktiven Aspekte: genüßliches Sich-Ergeben in narzistisches Selbstmitleid; Empfang des Riesen-Mitleids der gleichfalls angeblich »schlappen« Klassenkameraden; Solidarisierungseffekt aller angeblich »Schwachen« gegenüber dem »rücksichtslosen« Fahrtleiter und den »rücksichtslosen« Schnell-Radlern und so weiter. Irgendwo zwischen Sythen und Haltern passiert beim Befahren einer gut ausgebauten Straße mit breitem Straßenrand Vanessas Sturz. Sie radelt mit Frau Pink im hinteren Teil der Gruppe, und nachdem die Nachricht von ihrem Sturz nach vorn gelangt ist, läßt der Fahrtleiter die Klasse erst einmal fünfzig Meter bis zur Einmündung einer Nebenstraße weiterfahren, um mit den Schülern von der Straße herunterzukommen. Dann fährt er zurück zu der Gestürzten. Vanessas Sturz ist so passiert: Sie ist neben einer Klassenkameradin gefahren und hat nicht auf den Weg geachtet. Dabei ist sie mit einem Straßenpfosten kollidiert und darüber gestürzt. Da gibt es zunächst Tränen, die aber bald versiegen, stattdessen lacht Vanessa über ihre Unvorsichtigkeit und das Glück, beim Sturz so glimpflich davongekommen zu sein. Die beiden Fahrtbegleiter trösten die Gestürzte, lassen sich die Verletzungen zeigen glücklicherweise nur eine Schürfwunde am Handgelenk -, und Frau Pink sprüht Wundspray darauf. Dann öffnet Murat die Sanitätstasche und klebt Vanessa ein Pflaster auf die leicht blutende Schürfwunde. Frau Pink trägt etwas Wundsalbe auf die angekratzte, aber nicht blutende Partie über dem linken Wangenknochen auf. Nachdem Vanessas Wunden versorgt sind und das kleine graue Nilpferd im Ausschnitt von Vanessas Latzhose wieder richtig in Position gebracht ist, radeln Vanessa und Murat los in Richtung der Hauptgruppe, die noch immer hundert Meter entfernt an der Straßeneinmündung wartet, die beiden Fahrtbegleiter folgen. Dies war soeben der dritte und letzte ernstere Zwischenfall auf dieser Klassenfahrt. Das heißt
Sekunden später stürzt der Fahrtleiter über einen Straßenpfosten aus gleichem Grund wie kurz zuvor Vanessa: unaufmerksames Nebeneinanderfahren, Reden mit Nachbarin. Die Komik der Situation ist trotz der Schürfwunde am rechten Handballen und der Verstauchung von Daumen und Handgelenk nicht zu übersehen, ein Komödienschreiber hätte sich das besser nicht ausdenken können. Die Strecke verläuft auf der Rückfahrt ähnlich wie auf Hinfahrt, aber zum Schluß wird sie fahrerisch etwas unerquicklich und häßlich durch den Weg, den wir von Olfen aus über stark befahrene Autostraßen nach Selm und Cappenberg nehmen. Die Fahrtbegleiterin verabschiedet sich von uns vor ihrem Haus südlich von Cappenberg, was für manche jetzt, am Ende der Tour, ein bißchen provokant wirkt, da alle wissen: Wir haben noch eine gute halbe Stunde Weg vor uns, und der Himmel verfinstert sich inzwischen regnerisch. Um den Straßenverkehr zu meiden, biegen wir in Cappenberg beim Restaurant Kreuzkamp in Richtung Bork nach rechts ab. Bisher tröpfelte es nur, jetzt fängt es richtig zu regnen an. Im Cappenberger Wald, zwischen Struckmannsberg und dem Kriegerdenkmal an der Bergkampstraße, prasselt es so sehr, daß wir im Halbdunkel der hohen Laubbäume mit ihren dichten Kronen ein paar Minuten warten, bis der Regen etwas nachgelassen hat. Von hier aus dauert unsere Radtour nur noch zwanzig Minuten. Wir überqueren am Kriegerdenkmal die Bergkampstraße und folgen weiter dem Krempelbach. Das Gymnasium Altlünen lassen wir links liegen und biegen sogleich in den Brusenkamp ein, den wir südlich der Bebauung auf einem Gartenweg zur Borker Straße hin durchfahren. An der Borker Straße biegen wir links ab, bleiben aber noch auf der östlichen Straßenseite, bis die auseinandergezogene Gruppe sich unmittelbar gegenüber der Straße »Im Ort« gesammelt hat. Jetzt überqueren wir die Borker Straße, fahren durch den Ort und passieren die ara-Schuhfabrik, bevor wir die Alstedder Straße überqueren, um zum Lippedamm zu gelangen und Richtung Stadtmitte weiterzufahren. An der Lippebrücke über die Konrad-Adenauer-Straße wird die Gruppe aufgelöst. Es ist 16.00 Uhr. Alle sind in diesem Regen ziemlich froh, daß sie wieder in Lünen und bald zu Hause sind. Wir sind in den drei Tagen etwas über 200 km geradelt. Oktober 1991 |