Momentaufnahmen 2000


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Zehn Jahre Schüleraustausch zwischen der Johann-Wolfgang-von-Goethe-Schule (Schule 515) in Sankt Petersburg und dem Freiherr-vom-Stein-Gymnasium in Lünen

Von Hanna Scholle

Im Jahr 2000 feierten wir das zehnjährige Bestehen des Schüleraustausches zwischen der Goethe-Schule in Sankt Petersburg und unserem Gymnasium. Ein Großteil der Russischschülerinnen und -schüler unserer Schule haben an insgesamt sechs Austauschen teilgenommen; einige wenige haben darüber hinaus private Kontakte gepflegt, haben ihre Partnerinnen und Partner auch nach Abschluss der Schulzeit eingeladen oder haben sich allein nach Sankt Petersburg auf den Weg gemacht. Für mich als – inzwischen leider einzige – Russischlehrerin der Schule ist dieses Jubiläum Anlass, eine vorsichtige Bilanz zu ziehen und einige Momentaufnahmen unserer Begegnungen zu beleuchten.
   
März 1990: Auf dem Dortmunder Bahnhof gehen Lüner und Petersburger Schüler zögernd aufeinander zu

Im März 1990 steht die erste Gruppe Petersburger Schülerinnen und Schüler mit ihren Lehrerinnen auf dem Dortmunder Bahnhof – schüchtern, übernächtigt von der 36-stündigen Zugfahrt und den Transitüberquerungen von Ost- nach Westberlin. Zögernd gehen unsere beiden Gruppen aufeinander zu. Gorbacev ist noch an der Regierung, aber die Schülerinnen und Schüler äußern ihre Vorliebe für Jelzin, von dem sie sich mehr versprechen. Aufbruch und Zukunft liegen in der Luft (Wind of Change!). Wir sind neugierig, wie die politische Entwicklung weitergehen wird, optimistisch, dass nach dem Fall der Mauer und der offenbar stattfindenden Demokratisierung in der UdSSR ein neues Zeitalter anbricht. An die »Mühen der Ebene« denken wir zu diesem Zeitpunkt nicht. Dieser erste Austausch dauert drei Wochen; und schon im April 1990 machen wir uns auf zum Gegenbesuch, ebenfalls mit der Bahn.

In Berlin haben wir ein paar Stunden Aufenthalt und verbringen diese Zeit rund um das Brandenburger Tor, durch das man tatsächlich ohne Schwierigkeiten hindurchgehen kann! Was für ein Gefühl! Dieses Hochgefühl und diese Neugier begleiten uns auf der gesamten Fahrt – durch Polen, durch die Sowjetunion, die gleich hinter der polnischen Grenze anfängt. In Vilnius, damals noch Vilna, der Hauptstadt Litauens, sehen wir aus dem Fenster. Die Luft riecht anders, meinen wir, Nervosität macht sich breit, aber auch Unternehmungslust und Vorfreude erwachen. Langsam nähert sich der Zug Leningrad, wir stehen auf dem Gang, sehen Felder und Wiesen, noch winterlich kahl, Menschen an Bahnschranken, die gleichmütig unserem Zug hinterblicken.

Dann sind wir plötzlich da, tauchen ein in den Alltag der Stadt. Überall gibt es Menschenschlangen, die anstehen nach Lebensmitteln, Kleidung, Haushaltsgeräten. Für uns ein gespenstischer Anblick. Vieles kann man nur mit Leningrader Pass erwerben. Es gibt kaum Cafés oder Restaurants, in denen man sich von der Stadtbesichtigung erholen kann. Und so sitzen Theo Freihold, mein damaliger Russisch-Kollege, und ich nach dem offiziellen Programm meist zähneklappernd auf einer Parkbank vor der Isaakskathedrale und tauschen unsere Erlebnisse aus. Unsere Schülerinnen und Schüler durchstreifen derweil die Läden und kaufen alles, was niemand außer ihnen sonst benötigt und wozu man keine Karte vorzeigen muss: Fingerhanteln und Basketballkörbe, Metronome fürs Klavier, eine blau eingebundene Biographie Fidel Castros in spanischer Blindenschrift, Armeejacken... Aufbruch und Verfall liegen dicht beieinander.

In der Schule gibt es noch eine Thälmann-Ecke, werden die Schüler im Wehrerziehungsunterricht unterwiesen, wie man eine Kalaschnikow auseinander nimmt und zusammenbaut, was unsere Schüler zu meiner Verwunderung nur spannend und nicht etwa zweifelhaft finden. Die Jugendlichen tragen noch ihre Pionieruniformen, die kleinen Mädchen kommen mit dicken weißen Schleifen im Haar in die Schule.

September 1991: Der Austausch steht auf des Messers Schneide

Im August 1991 gibt es einen Putsch, der später Jelzin an die Macht bringt. Außerdem heißt Leningrad nun wieder Sankt Petersburg, was in der Bevölkerung und im Kollegium der Schule durchaus umstritten ist. Die Versorgung ist noch immer schlecht. Häufig sieht man LKW des Deutschen Roten Kreuzes, die Hilfslieferungen bringen; es gibt Gerüchte über bevorstehende Hungerrevolten. Die Thälmannecke in der Schule ist abgebaut, nur vereinzelt sieht man noch Pionierunformen. Mein Kollege und ich sind es leid, auf Parkbänken zu frieren, und gehen nun abwechselnd in die »Tschajka«, die schon seit längerem existierende erste deutsche Kneipe unweit des Nevskij, und in das Café von Dr. Oetker auf dem Nevskij, das allgemein unter dem Namen »Nevskij 40« (das klang irgendwie cooler) bekannt ist. Unsere russischen Bekannten gehen nicht dorthin – man muss in Devisen zahlen, und außerdem haben sie das Gefühl, dass dort eh nur windige Geschäftemacher und die Mafia verkehren. Tagsüber flüchten sich dorthin aber deutsche Russischlehrer und Touristen, die für kurze Zeit Atem schöpfen wollen in einer Stadt, deren Kontraste schmerzen.

Im Dezember tritt Gorbacev als Präsident der UdSSR zurück; die Sowjetunion wird aufgelöst. Auf dem Kreml wird die Rote Fahne mit dem Sowjetstern eingezogen, stattdessen die russische Flagge gehisst. Die UdSSR, die Sowjetflagge, die roten Sterne auf dem Kreml sind inzwischen Geschichte. Unsere Schülerinnen und Schüler wissen nichts mehr davon – aber auch die Schüler der Goethe-Schule kennen diese Zeit nur noch aus den Erzählungen ihrer Eltern.

1993: Eine Schulfahrt nach Russland ist keine Klassenfahrt in die Toskana
1993: Während unserer Zeit in Sankt Petersburg löst Jelzin das Parlament auf. Meine Kollegin Gordana Kaltwasser und ich hören ständig Radio, unsicher und ein wenig beängstigt, wie sich die Situation weiter entwickeln würde. »Ihr könnt euch doch immer noch bis zur finnischen Grenze durchschlagen«, witzelt mein Mann, als ich ihm später unsere Besorgnis während des Aufenthalts schildere. Wer in Deutschland (außer uns Russischlehrerinnen und -lehrern) kann ermessen, dass eine Fahrt mit einer Schülergruppe nach Russland keine Klassenfahrt in die Toscana ist? Einen Monat später kommt es zu den Oktoberunruhen in Moskau, die einen Riss in der russischen Gesellschaft offenbaren, der bis heute existiert.
1995, 1997...: Überall drängt sich westliche Reklame ins Blickfeld

1995: Die Veränderungen in der Stadt sind auf den ersten Blick sichtbar. Überall drängt sich westliche Reklame ins Blickfeld; in der Nähe der Schule hat ein Supermarkt seine Pforten eröffnet. Unsere Schülerinnen versorgen sich hier mit lebensnotwendigen Schokoriegeln und Cola. Die russischen Schülerinnen und Schüler haben das Interesse an Politik völlig verloren. Niemand gibt sich mehr der Illusion eines schnellen wirtschaftlichen Aufschwungs hin. Im Vestibül der Schule sitzt ein Sicherheitsmann, den die Eltern angestellt und bezahlt haben.

1997: Der Sicherheitsmann ist verschwunden. Der Nevskij-Prospekt und die Innenstadt scheinen fest in der Hand westlicher Multis und Großfirmen. Im DLT-Kaufhaus sehe ich den ersten Geldautomaten, die meisten Geschäfte akzeptieren Kreditkarten. 1995 noch hatte eine Petersburger Kollegin beim Anblick eines »Geldautomaten« in Lünen schallend gelacht – so pervers-komisch fand sie die Vorstellung eine Automaten, der Geld spendet. In den Cafés der Internationalen Hotels treffen sich jetzt neben Geschäftsleuten und »biznesmeny« mit ihren Bodyguards nach wie vor wohlhabende Touristen im Pensionsalter in praktischer Gore-Tex-Kleidung und bequemen Wanderschuhen. Elektronische Sperren sichern (?) die Eingänge. Der smarte Garderobier nimmt gern Dollars als Trinkgeld. Der Cappuccino im Bistro des Evropejskaja kostet $ 4.50, eine gebackene Kartoffel $ 9.00. In den Metro-Unterführungen stehen die Bettler, singen alte Frauen mit Inbrunst Volkslieder und haben ein Pappschächtelchen für Rubelalmosen aufgestellt. Baukräne reißen die Straßen auf, verwandeln sie in Schlammpisten, und niemand weiß, wer im Endeffekt in den Häusern entlang der Prospekte noch wohnen wird. Wer die Profiteure sind, kann man sich schon eher vorstellen. Vor dem Jelissejev-Delikatessengeschäft wird jeden Abend gegen 18.00 Uhr eine Kanone abgefeuert, Einheimische und Touristen schaudern erfreut beim erwarteten Kanonenschlag. In der Zeitung steht, ein Mafiaboss habe das traditionsreiche Jugendstilgeschäft gekauft und wolle dort stattdessen ein einträglicheres Stripteaselokal eröffnen. Was soll man glauben? Alles ist möglich.

2000: Für unsere Schüler ein »ganz normales Land«?

Im Jahre 2000: das Jelisseevskij existiert zum Glück noch. Es ist eingerüstet, aber der Jugendstilverkaufsraum ist unverändert. »Was ist Jugendstil?« fragen meine Schülerinnen, »das ist ja kitschig.« Die restaurierten Jugendstilräume des Witebsker Bahnhofs schauen sie sich nur an, weil es dort auch eine gepflegte Toilette gibt. Die immensen Veränderungen im Stadtzentrum können sie nicht abschätzen, die Möglichkeit der historischen Einordnung, des Vergleichs fehlen. Für sie ist Russland zunehmend ein »ganz normales Land«, wobei die Gegensätze der Stadt und der Lebensverhältnisse, so wie sie sie kennenlernen, mit der Zeit doch ins Bewusstsein dringen. Neben dem offiziellen Programm der Schule ziehen sie wie alle anderen Gruppen vor ihnen ihr privates Programm durch, kaufen CDs, Computer-Software, Klamotten auf dem Markt. Der »Einkaufskorb« der ersten Gruppe 1990 sah noch anders aus…

Und während all diese Veränderungen Raum gegriffen haben, sind die Lehrerinnen und Lehrer der Schule 515 unbeirrt ihrer pädagogischen Arbeit nachgegangen, haben die Schule umbenannt in »Goethe-Schule«, denn an ihrer Schule wird ein traditioneller Bildungskanon gepflegt, den wir bei uns am FSG schon lange nicht mehr durchsetzen können und/oder wollen. Die Schülerinnen und Schüler der Goethe-Schule bemühen sich weiterhin, das immense Programm zu bewältigen; viele nehmen noch zusätzlich teuren Privatunterricht, wenn die Eltern ihn denn bezahlen können. Die Zukunft ist ungewiss, niemand hat einen Job oder einen Universitätsplatz sicher (es sei denn, man verfügt über die notwendigen Dollara). Diszipliniertes Lernen ist immer noch angesagt.

Ehemalige Schülerinnen der Schule, die 1994 am Austausch teilgenommen haben und nun als Praktikantinnen an der Schule arbeiten, haben für unsere Gruppe eine Stunde über Puschkin zusammengestellt, bevor wir gemeinsam ins Museum an der Mojka gehen. Mit Fernsehaufnahmen, Kassetten und Bildern lassen sie multimedial in glänzendem Deutsch das Bild des größten russischen Dichters erstehen. Charmant und sicher agieren sie vor unserer Gruppe im Fernsehraum der Schule, in dem tatsächlich vor weißgetünchter Wand noch ein überlebensgroßer, ebenfalls makellos weißer Lenin steht. Mit ausgestrecktem Arm deutet er ins Leere; niemand außer mir und meinem Kollegen Martin Haverkamp scheint ihn wahr zu nehmen.

Was bedeutet der Austausch für unsere Russischschüler?
Ich kann auf diese Frage keine allgemein zutreffende Antwort geben. Im Gegensatz zu mir haben sie jeweils nur einen zeitlichen Ausschnitt wahrnehmen können; die Dimension der Veränderungen können sie nicht einschätzen, da hierzu die historischen Kenntnisse weitgehend fehlen. Aus einer Kleinstadt am Rande des Ruhrgebietes kommend, begegnen sie einer vielfachen Millionenstadt im Umbruch, in der die sichtbaren Attribute westlichen Lebensstils scheinbar vertraut erscheinen – und die dennoch ganz anders ist. Sie müssen sich mit Jugendlichen und Erwachsenen auseinandersetzen, die zum Teil noch ein anderes Wertesystem haben und denen die lockere Jugendkultur unserer Schülerinnen und Schüler, ihr selbstverständlicher Anspruch auf Konsum und Bequemlichkeit, ihr mangelnder Respekt vor Schulwissen und Bildungsgütern traditioneller Prägung bisher noch fremd zu sein scheint und die deshalb, mitunter fast trotzig, ihr Wertesystem dagegen setzen. Dass unsere Schülerinnen und Schüler (bis auf eine Ausnahme) das klassische Konzert in der Großen Philharmonie nicht mehr bis zum Ende »aushalten« und bereits während des ersten Satzes des ersten Stückes den Saal verlassen, stößt auf ungläubiges Unverständnis – bei mir übrigens auch.
Wem muss ich danken?

An diesem Austausch waren von Anbeginn viele Kolleginnen und Kollegen ideell und organisatorisch beteiligt. Wir haben notwendige finanzielle Unterstützung erfahren durch das Kollegium des FSG (was wirklich einmalig ist), durch den Förderverein, den Lions-Club, das Land. Sie alle haben diesen Austausch mit ermöglicht.

Wem muss ich noch danken? Wenn ich die Augen schließe, tauchen die Bilder von Sankt Petersburg vor mir auf – aber es tauchen auch auf die Bilder meiner Kolleginnen dort. Ihre Arbeit, ihr Engagement, ihre Kenntnisse der deutschen Sprache und Literatur, die sie in vielfältiger Weise ihren Schülerinnen und Schülern vermitteln, bewundere ich uneingeschränkt. Ich weiß, dass ich mich auf sie verlassen kann, und fühle mich wohl in ihrer Mitte – auch wenn unser privater Alltag ganz unterschiedlich aussieht und ich nicht alle Ansichten teile.

Liebe Kolleginnen der Goethe-Schule, Euch allen widme ich diese Zeilen.

Lünen, im November 2000

Hanna Scholle

Stand: 13.11.2000
Artur Weinhold

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