Pink ChurchIn der Stadtkirche St. Georg finden in diesem Jahr anlässlich des Reformationsjubiläums wechselnde Installationen statt. Mit dem Literaturkurs Q1 besuchten wir im September die Installation „Pink Church“ des Lüner Künstlers Klaus Zimmermann. Hier findet ihr eine Auswahl aus unseren Impressionen und den daraus entstandenen Texten.

Texte im Original-Layout

Hallo.

Ich habe euch etwas zu erzählen.

Ich bin die Orgel in der evangelischen Kirche St. Georg in Lünen. Ich besitze 32 Register mit insgesamt 2290 Pfeifen, die… oh. Das interessiert euch vermutlich nicht. Was kann euch eine alte Orgel auch schon erzählen?

Ich verrate es euch. Denn ich bin hier schon seit 1958 und habe schon so einiges gesehen. Das ist aber nicht so wichtig. Wichtig ist, was hier vor ungefähr drei Wochen passiert ist. Eine Taufe, eine Hochzeit, denkt ihr? Nein. Etwas anderes. Etwas Neues. Etwas, das selbst ich mit meinen knapp 60 Jahren noch nicht gesehen habe.

Also:

Vor etwa drei Wochen kam dieser Mann in die Kirche. Klaus Zimmermann. Ein Künstler. Ich schenkte ihm kaum Beachtung, als er unter mir zu werkeln begann und sein Kunstwerk aufbaute. Zuerst mochte ich ihn nicht, denn er hatte alle Bänke aus der Kirche geräumt. Seine Kunst interessierte mich wenig, es war menschliche Kunst und ich verstehe diese meist nicht. Dennoch vermochte es ein Erlebnis, meine Meinung über den Mann und seine Kunst zu ändern.

Zunächst passierte nicht viel. Die Installation war einfach da, und ein paar Menschen kamen um sie sich anzusehen. Nichts Besonderes.

Das Besondere ereignete sich erst, nachdem alle Menschen weg waren und sich Stille über die Kirche legte. Es wurde Nacht und langsam erhob sich der Mond am Himmel. Sein sanftes Licht schien durch die Fenster mit den bunten Mosaiken, wie jede Nacht. In dieser Nacht aber war etwas anders. Die Installation.

Das fahle Mondlicht ließ die pinke Farbe hell erstrahlen und tauchte die gesamte Kirche in ein unwirkliches Licht. Ich schien mich nicht mehr auf dieser Welt zu befinden; in diesem zeitlosen Moment schwebte ich in einer anderen Sphäre.

Es war ein ganz besonderer, magischer Augenblick. Und niemand durfte ihn erleben… bis auf mich. Und ich kann euch nicht einmal davon erzählen.

Ihr Menschen wisst manchmal wirklich nicht, was ihr verpasst.

 


 

Gefühle einer Säule

Seit ein paar Wochen ist in meiner Kirche jetzt so ein „Kunstwerk“ ausgestellt. Ich weiß nicht, was alle so toll daran finden. Ich konnte diesen Künstler vom ersten Tag an nicht ausstehen. Das erste, was er gemacht hat, war, die Bänke rauszutragen. Mit wem soll ich mich denn jetzt unterhalten? Stattdessen hat er jetzt irgendwelche zugekleisterten Europaletten in meine Kirche geklebt. Meiner Meinung nach ein Stilbruch höchsten Grades! Wie kann er diesen Ort nur so verunstalten? Aber das ist noch nicht mal das Schlimmste an der ganzen Sache! Seit die Bänke durch diesen vollgeschmierten Teppichboden ersetzt wurden, interessiert sich niemand mehr für mich! Alle haben nur noch Augen für das „Kunstwerk“. Ich bin nur noch ein Gebilde aus Steinen, das den Besuchern die Sicht versperrt. Letztens hat sich jemand sogar gegen mich gelehnt! Was erlaubt der sich eigentlich?! Früher waren die Menschen noch nicht so respektlos wie heute. Früher haben die Menschen mich noch bestaunt und von den Baumeistern geschwärmt, die mich erbaut haben. Ja, früher war alles besser. Jetzt kann ich nur noch hoffen, dass ich nicht auch noch mit irgendeinem Kunstwerk zugekleistert werde. Aber es ist wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, bis ich auch verschandelt werde. Naja, wenn ich Glück hab, bin ich bis dahin ja vielleicht schon eingestürzt.

 


 

 

Das Gedicht,das keinen Sinn ergibt

Mia ist zweifellos

Orientierungslos

Sie sucht in ihrem Browserverlauf

Nach dem perfekten Kauf

Geleitet auf verschiedene Pfade

Denkt sie sich:Schade Marmelade

Verwirrung macht sich breit

Und das in der Vorweihnachtszeit

Ihr wird alles zu viel

So ohne Ziel

Mia muss nachdenken

Und sich irgendwie beschränken

Letztendlich war es eine Kleinigkeit

Lösen dieser Schwierigkeit

Sie fand einen pinken Hut

Oh ja der stand ihr gut

Ungewiss ist jetzt gewiss

Und vergiss

Das Gedicht macht keinen Sinn

 Das sagt auch ihre Freundin Linn

Jeden Tag, am gleichen Platz, im gleichen Gebäude. Ich höre immer die gleichen Gebete. Das einzige, was sich daran ändert, sind die Leute, die sich gemütlich auf mich setzen. Mal sind es die üblichen Normalgewichtigen, die brav das machen, was sie machen sollen. Aber dann sind es auch mal die Kinder, die mit ihren dreckigen Schuhen auf meiner schönen Farbe herumtrampeln. Das, woran ich mich wohl den Rest meines standhaften Lebens erinnern werde, ist diese dicke Frau mit ihrem Kaugummi an ihrer Hose, was jetzt an mir hängt. Alles soweit gewöhnlich, bis dieser eine Mann kam und mein komplettes Leben auf den Kopf stellte, wortwörtlich. Abgesehen davon, dass ich jetzt pinke Farbkleckse auf mir tragen muss (obwohl das bestimmt ziemlich gut an mir aussieht), hab ich endlich mal etwas erlebt, was ein bisschen Stimmung in die Kirche bringt. Zwar wurde ich von meinem gewöhnlichen Platz getragen und in einen Raum verstaut ... Aber der Mann hatte vergessen, die Tür komplett zu zu machen, und so konnte ich seinem Kunstwerk zusehen, was auch immer er versucht hat. Auf einmal waren an dem Platz, an MEINEM Platz, ganz viele pinke Linien ... Es war echt schön, mal was ganz anderes! Ich mochte es dort zu zu sehen! Könnte ich mich bewegen, würde ich wohl darauf balancieren ... so schön. Aber schon bald balancieren die Kinder wohl wieder auf mir. Jeden Tag, am gleichen Platz, im gleichen Gebäude.

Vor einem befinden sich pink farbene Linien, welche sich mehrmals treffen, verwischen oder auch enden. Manche Stellen sind stark mit den Linien überzogen, andere nicht. In der Nähe des Altars sind die Linien vehement vertreten und kreuzen sich häufiger als woanders. Die Linien selbst sind "willkürlich", andere zudem nachgezogen. Auf diesen befinden sich Ziffern, welche zufällig ausgewählt worden sind. Nach der Betrachtung einer Beschreibung für die Installation fällt einem auf, dass die Linien und Ziffern für Orientierungslosigkeit sorgen sollen.

Die Intention des Künstlers war, dass sich Individuen von den alten Gebräuchen loslösen, wenn nicht sogar befreien, und für sich selbst einen Pfad ebnen.

Diese Umsetzung war für eine Kirche optimal geeignet, da die Kirche schon früher durch Gebräuche Menschen an sich binden konnte. Die pinken Linien zeigen eine andere Möglichkeit auf und trotzen so den strikten Gesetzen der Kirche.

 


 

Richtungslos

Wie so oft liegt sie auf ihrem Bett. Wie so oft starrt sie an die Decke und in ihr Zimmer. Wie so oft hört sie Musik. Wie so oft schließt sie die Augen und denkt nach. Wie so oft vertieft sie sich in den Song und wie so oft passt der Text perfekt zur Situation.

Doch eines ist anders als sonst: Zum ersten Mal nimmt sie die Gegenstände in ihrem Zimmer anders wahr. Sie hat das Gefühl die Gegenstände richtig zu sehen und nicht nur zu wissen, dass sie da sind. Sie und die Gegenstände verbindet jeweils ein Erlebnis. Ein Erlebnis, das ihr jetzt wieder ins Gedächtnis gerufen wird.

  1. 7. 8: Ein Segelausflug mit ihrer Mum und ihren Geschwistern, bei dem sie sich einen Schlüsselanhänger gekauft hat, der ihr bis heute immer Glück gebracht hat.
  1. 4. 12: Der Schüleraustausch nach Frankreich, bei dem sie zum ersten Mal originales Baguette und leckere Brezeln gegessen hat, die sie vorher so verabscheute.
  1. 6. 12: Ihr erstes Videospiel, Pacman, womit sie nicht wieder aufhören wollte und welches erst der Anfang ihrer kleinen Spielsucht werden sollte.

Nach und nach kommen alle Geschichten, die sich hinter den Sachen in ihrem Zimmer verbargen, wieder hoch. Manche Erinnerungen sind verschwommener als andere, scheinen weiter weg, doch andere erlebt sie wie in einem Déjà-vu:

  1. 6. 7: Ihre Eltern gehen in einem heftigen Streit auseinander und ihre Mum bekommt nach Monaten Rosenkrieg das alleinige Sorgerecht. Seitdem sah sie ihren Vater nur ein einziges Mal wieder.
  1. 6. 7: Ihre einzige Freundin muss wegziehen und die Schule wechseln.

Ein neuer Song schallt durchs Radio. 'Richtungslos' . 'Schon wieder passend' , denkt sie. 'Richtungslos' irrt sie durchs Leben und hat keine Ahnung, was sie mit den Erinnerungen machen soll. Vor allem mit denen, die sie runter ziehen. 'Du bist, was die Welt aus dir gemacht hat' , hört sie eine entfernte Stimme sagen, doch in ihrem Kopf hallt ein altes Gespräch mit ihrer Mutter:

'Ich möchte keine Brille mehr tragen.'

'Aber du musst, sonst siehst du nichts.'

'Ich möchte nichts sehen, Mama. Ich möchte blind sein, denn diese Welt ist voller Müll und Zerstörung. Ich möchte taub sein, denn diese Welt ist voller Gelächter. Ich möchte tot sein, denn diese Welt ist voller Monster, Mama.'

Ihr läuft eine Träne über die Wange. Sie ist ein Teil dieser Welt und diese Erinnerungen sind ein Teil von ihr. Alle zusammen machen den Menschen, der sie ist. Ein fehlendes Teil eines Ganzen kann alles verändern. Auch sie ist ein Teil eines Ganzen und auch sie muss an Ort und Stelle bleiben und ihre Rolle erfüllen. Egal wie wirr ihre Gedanken gerade zu sein scheinen, haben sie doch alle ihren Platz im 'Gedanken-Netz'.

Wie so oft liegt sie auf ihrem Bett. Wie so oft starrt sie an die Decke und in ihr Zimmer. Wie so oft hört sie Musik. Wie so oft denkt sie nach. Wie so oft vertieft sie sich in den Song und wie so oft passt der Text perfekt zur Situation. 'Richtungslos'.

Doch eines ist anders als sonst: sie nimmt ihre Brille nicht ab und schließt auch nicht ihre Augen, denn sie ist ein Teil des Ganzen und möchte sehen, was um sie herum passiert.

 


 

Eisige kalte Stille

Diese eisige kalte Stille breitet sich schon seit Wochen in diesem Raum aus. Nichts ist mehr so wie es einmal war. Die alten Zeiten sind vorbei. Die Leute kommen einfach nicht mehr so oft - und ich?

Ich werde nicht mehr beachtet. Es ist ziemlich seltsam, wie schnell die Zeit vergeht. Alles ist so seltsam, so starr, so unrealistisch. Was ist bloß passiert? Was bin ich überhaupt noch?

Was für einen Sinn habe ich in dieser Kirche? Bin ich bloß nur eine Säule oder bin ich mehr?

Früher wurde ich bewundert und berührt, doch jetzt werde ich nicht mehr wahrgenommen. Diese eisige kalte Stille lässt mich einfach nicht mehr in Ruhe.

 


 

Freitagabend.

Ich sitze auf meinem Balkon und überblicke die Menschen in den Straßen der Stadt.

Manche kommen gerade erst von der Arbeit, andere sind auf dem Weg in das Nachtleben.

Doch mir erscheint das alles zu viel. Die Menschen zu monoton und gefangen im Alltag. Ich fange an nachzudenken und suche nach einem Sinn.

Das kann doch nicht alles gewesen sein, oder?

Ich möchte das alles nicht mehr. Ich möchte ausbrechen, einen Befreiungsschlag fühlen. Es muss schön sein einfach aufzubrechen, orientierungslos und ohne Ziel. Die Leichtigkeit zu spüren, die das Leben für uns bereit halten kann. Den Trott des Alltags hinter mir zu lassen. Mir keine Gedanken zu machen, ob ich den Erwartungen der Gesellschaft entspreche. Einfach nur los ins Ungewiss und neue Pfade laufen, die zuvor noch nie betreten wurden. Die Vielfältigkeit der Welt entdecken und frei sein. 

Doch es erfordert Mut, denn in einem Leben voller Regeln und Ordnungen ist es einfacher und sicherer.

Freitagabend. 

Ich sitze auf meinem Balkon und überblicke die Menschen in den Straßen der Stadt.

Morgen werde ich wieder einer von ihnen sein.

 


 

Übers Leben

Oft denkt man über den Sinn des Lebens nach. Aber was ist, wenn es einfach keinen gibt? Man lebt oder man lebt nicht. Erfolgreich oder nicht. Glücklich oder nicht. Alleine oder gemeinsam. Man stolpert orientierungslos über die vielen Pfade, verläuft sich und findet dabei neue. Der Verlauf des Lebens ist nicht vorhersehbar und somit weiß man nicht, wo man ankommt - oder warum. Und es ist einem selber überlassen, was man daraus macht. Die Vielfältigkeit, die uns in unserem Leben erwartet, gibt einem die subjektive Freiheit. Und der Weg zu unserer eigenen Freiheit kann über klare Wege führen oder über Verwirrung. Vielleicht ist am Ende unserer Reise das Leben selbst der Sinn des Lebens.

 


 

*Route wird berechnet*

Sie sieht den Teller im hohen Bogen durch die Luft fliegen, den ihre Mutter vor ein paar Augenblicken aus der alten Glasvitrine ihrer Großmutter genommen hat. Kurze Zeit später zerschellt er mit einem lauten, nachhallenden Knall auf den Fliesen. Er ist zerbrochen. Ihre Mutter hat den jahrelang gut behüteten Teller ihrer geliebten Oma einfach auf dem Boden zersplittern lassen. Innerhalb von nur wenigen Sekunden hat sich das gute zum Schlechten gewandt. Ihre Mutter hat ihr gezeigt, dass sie nun nicht mehr an ihrer Seite steht. Sie hat sie einfach im Stich gelassen.

Mit einem Mal wird ihr klar, dass der Teller nicht das einzige ist, was in diesem Moment zu Bruch gegangen ist. Die Scherben auf den schwarzen Hochglanzfliesen ihrer Küche bedeuten viel mehr. Auch sie ist ein Stück weit gebrochen.

Mit offenem Mund und Tränen in den Augen steht sie da. Sie erträgt diesen Anblick nicht länger. Kurzerhand beschließt sie zu gehen und ihre Verwirrung im Raum stehen zu lassen.  

Mit der Tür, die hinter ihr ins Schloss fällt, lässt sie ein Stück ihres Lebens hinter sich und blickt das erste Mal seit langem wieder nach vorne.

Schrecklich hässliches Pink sticht ihr ins Auge: Ihr Freund parkt mit ihrem Wagen direkt vor dem Haus. Ein rostiger Chevrolet, gerade noch gut genug, um damit ein paar weitere Meilen zu fahren. Sie steigt ein. Sofort nimmt er ihre Hand. Sie zittert ein wenig, und er merkt, dass sie nicht mehr genug Kraft besitzt, um über die Situation zu reden, aber das muss sie auch gar nicht. Er drückt einfach aufs Gas, der Wagen macht einen kleinen Ruck, und dann fahren sie los. Ohne nachzudenken, einfach orientierungslos dahin fahren, wo das Schicksal sie hinführt. In diesem Moment hat ihr Leben keinen höheren Sinn, sie sind einfach nur da, fahren die einsame Landstraße entlang und lassen jegliche Zivilisation hinter sich, dem Radio lauschend. Ziel: ungewiss.

Stundenlang hält er ausnahmslos weiterhin einfach nur ihre Hand, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen. Keiner von beiden denkt daran, diese ruhige Atmosphäre zu unterbrechen. Sie wird von einer gewissen Leichtigkeit begleitet, denn nun sind sie frei. Sie fahren, ohne einen einzigen Gedanken an das zu verschwenden, was hinter ihnen liegt, oder daran, was noch kommen sollte.

Der bisherige Verlauf ihres Lebens war nicht zufriedenstellend, doch gemeinsam würden sie neue Pfade des Lebens gehen, bis sie endlich an ihr Ziel gelangen: glücklich werden.

Es war still in der Kirche und es kam nur ein leichter Lichtstrahl durch das Fenster an der östlichen Wand.

Das ändert sich, als eine Gruppe von Menschen die Kirche betrat. Sie schauten sich alle um, als ob sie etwas suchen würden. Sie suchten den ganzen Raum ab, nur auf den Boden hatten sie nicht gesehen.

Aber als sie mich gesehen hatten, konnten sie ihren Blick nicht mehr abwenden. Die Menschen betrachteten mich aus allen Winkeln mit skeptischen und neugierigen Augen. Ich glaube nicht, dass sie in der Lage waren, mich zu verstehen. Aber sie versuchten es.

Mein Erbauer versuchte es ihnen zu erklären, dass ich neue Wege schaffen solle und für nichts Bestimmtes stehen würde. Meine Betrachter aber wollten mir unbedingt eine Bedeutung geben. Sie spekulierten und diskutierten, was ich zu bedeuten habe.

Dabei liegt der Sinn meiner Existenz im Auge des Betrachters. Ich bin, was ich bin, und kann für jeden alles bedeuten. Ich bin die Installation, Richtungslos, die pinke Kirche.

 


 

Wir sind frei

Stehe jeden Morgen früh auf. Gehe jeden Tag zur Arbeit oder zur Schule.
Folge den neusten Fashiontrends.
Mache deine Arbeit sorgfältig, sauber, und richtig.
Tu so, als ob du normal wärst.
Befolge die Regeln.

Sprich mir nach: Ich bin frei.

Doch das Leben ist nicht so grau, nicht so einfach.
Wie auf einer Leinwand sind wir Menschen die bunten Kleckse zu dem einfachen weißen Hintergrund.
Alle unsere Fehler sind strahlende Farben sowie ein auffallendes Pink.
Es ist einfach, diesen einen Weg zu gehen, einfach nach vorne zu blicken und nur so zu tun.
Doch so funktioniert das Leben nicht. Es ist nicht nur ein Weg, der komplett geradeaus verläuft.

Wer sagt, dass man nicht den Weg zurückgehen kann, wenn man nur will.
Ob man jetzt etwas bereut und versuchen will, es wieder hinzubiegen, oder einfach nur, um sich zu erinnern.

Es sind die Regeln und Ansichten anderer, die uns davon abhalten, den Weg zu verlassen. Dennoch gibt es doch Personen, die sich nicht von den anderen leiten lassen und den Weg so gehen, wie sie es wollen. Von dem Weg abzukommen, einen anderen Weg einzuschlagen, orientierungslos zu sein… das alles ist nicht falsch.

Manchmal muss man sich halt zuerst verlieren, um zu wissen, welchen Weg man gehen will.

Denn schließlich - sind wir frei.

Manchmal wird es um mich ganz hell und meine alten müden Augen sehen etwas zwischen all meinen verstaubten Einzelteilen. Für gewöhnlich wird mein Dienst nur sonntags oder an besonderen Tagen in Anspruch genommen. Dann fühle ich mich auch nochmal gebraucht zwischen all den jungen Hüpfern, die viel heller strahlen als ich.

Naja, bald wird mein Dienst vielleicht gar nicht mehr gebraucht. Ich sollte meine Augen zu machen und meinen täglichen Mittagsschlaf halten. Ich denke an mein altes Äußeres und an mein schäbiges Aussehen.

Doch Moment. Wer ist das? Junge Hüpfer tanzen unter mir herum und ich versuche mich zu konzentrieren, um die Gestalten alle wahrnehmen zu können. Es sind Schüler. Sie schauen sich bestimmt den bunten Teppich am Boden an. Als ich noch jung war gab es so einen dreckigen Teppich nicht. Überall sind kräftige rosa Striche verteilt.

Durch die Schüler kommt ein wenig Leben ins alte Haus und ich freue mich, junge Leute zu sehen, und nicht immer die gleichen Gesichter wie an einem Sonntag. Ich höre den älteren Mann in der Gruppe nach etwas Licht fragen und freue mich, die Kinder beim Licht näher betrachten zu können.

Ich merke die Hitze des Stroms langsam in mir aufsteigen. Die Hitze steigt mir in den Kopf, doch sie ist stärker und intensiver als sonst. Meine alten Einzelteile beginnen sich zu verkrampfen. Ich kann mich nicht mehr bewegen.

Mit einem Knall wird alles schwarz um mich und ich schließe meine Augen.

Gehe ich jetzt in Rente? Oder war mein Dienst nun völlig unwichtig? Würde ich jemals wieder leuchten? Oder sollte ich den jüngeren Platz machen? Ich höre jemanden von unten sagen, dass eine Glühbirne durchgebrannt sei. Das sind die letzten Worte die ich höre ehe ich in einen endlos langen Schlaf gleite, aus dem ich nie wieder aufwache.

Ich beobachte sie. Sie lachen. So viel Glückseligkeit steckt in ihren Gesichtern. Manchmal frage ich mich, ob ich die Einzige bin. Die Einzige, die nicht mit Leichtigkeit in den Tag geht. Oder ob ich die Einzige bin mit diesen Gedanken. Mentale Krankheiten sind fies. Der Verlauf, den sie haben. So schleichend und hinterhältig. Sie packen dich, lassen dich nie wieder los. Ich kämpfe gegen sie, wie gegen einen Schatten. Und doch weiß ich, dass sie zu mir gehören. Sie sind in meinen Kopf eingezogen. Sie sagen mir:,,Nein, iss das nicht“, oder ,,Die Klinge ist dein Freund!“ Sie versprechen mir Gutes und ich gehe darauf ein, obwohl ich weiß, dass es keinen Sinn hat. Irrational.

Ich vertraue mich jemandem an. Ich denke nach darüber, ob es richtig war. Ich denke schon, oder? Ich suche in meinem Kopf nach einer Orientierung und doch bleibe ich orientierungslos, denn wer bin ich denn ohne meine Untermieter in meinem Kopf? Ich weiß, dass sie mich niemals auf den rechten Pfad bringen können, denn Sie sind ohne Moral, kennen nur eine Meinung.

Und so stehe ich hier und schaue die lachenden Menschen an. Stille Fassade, doch dahinter tobt ein Sturm. Viele Gedanken gehen mir durch den Kopf. Jede Sekunde. Ich passe mich an und höre auf die anderen. Die Verwirrung ist groß. Jedes Mal denke ich, ich mache einen Fehler . Die Zukunft birgt Ungewissheit, doch Besserung. Ich stärke mich jeden Tag, warte, bis ich stark genug bin für den finalen Befreiungsschlag.

Wahrscheinlich bin ich nicht alleine. Andere verstecken sich hinter ihren Fassaden. Zusammen mit ihren Anas1, Mias2, anderen EDs3, Depressionen oder auch ohne Selbstbewusstsein. Im Stillen weiß ich, ich bin nicht alleine. Ich bessere mich.

1Abkürzung für Anorexie (engl. anorexia)

2Abkürzung für Bulemie (engl. bulimia)

3Abkürzung für eating disorder (engl. Für Esstörung)

Hier ist es so eintönig, langweilig und dunkel. Immer der gleiche Tagesablauf. Ständig diese nervigen Kinder, die mich während des Gottesdienstes die ganze Zeit mit ihren klebrigen Händen anfassen und um mich herumlaufen. Und dann noch das ganze Gewicht, das auf mir lastet. Ich bin so eifersüchtig auf die Säulen in den Kathedralen, die immer bewundert werden und Konzerten und Vorstellungen lauschen können. In letzter Zeit fragte ich mich wirklich: Hat das Leben überhaupt einen Sinn?

Doch dann passierte etwas, dass mich aus meiner Depression holte…

Eines Tages kamen mehrere Personen in die Kirche und holten alle Bänke raus. Zuerst dachte ich, es wären Diebe, und ich war schon ganz gespannt, denn wenigstens passierte hier mal etwas. Nun würde die Polizei kommen und die kleine Kirche würde zum Tatort werden. Außerdem konnte ich die Bänke sowieso nie leiden. Sie fühlten sich immer so wichtig, wenn sie zu Feierlichkeiten mit Blumen und bunten Bändern geschmückt wurden.

Lange Rede, falscher Sinn - es war doch kein Diebstahl, die Polizei kam nicht, die kleine Kirche wurde nicht zum Tatort und ich drohte wieder in meine Depression zu stürzen. ABER dann das… Kurz darauf kam eine Person in die Kirche namens Klaus Zimmermann (woher ich das weiß? Weil er kurz darauf ein Bild von sich mit seinem Namen darauf aufhing.) Er legte den Boden mit Vlies aus und bemalte diesen mit grell pinken, durcheinander verlaufenden Linien und beschriftete diese mit Ziffern. Das war ja mal was ganz Neues. Am nächsten Tag wartete ich wie gewohnt auf die Menschen, die zum Gottesdienst kommen. Ja, es stimmt, die jungen Leute interessieren sich kaum noch für die Kirche, was mir natürlich die Möglichkeit nimmt, meine Jugendsprache weiter zu verbessern. Aber die ältere Generation bleibt uns noch treu. Diese Woche würde wieder das alte Ehepaar Hoffmann kommen. Herr Hoffmann würde mal wieder einschlafen und Frau Hoffmann würde versuchen, ihn unauffällig aufzuwecken. Dann würde noch Frau Meier da sein, die bei allen Liedern lautstark mitsingt. Und nicht zu vergessen Frau Schneider, die sich immer um einen Platz in der ersten Reihe streitet. Doch dem war nicht so, die Kirche blieb den ganzen Tag leer. Schon lange nicht mehr hatte mich etwas so verblüfft. War die Welt untergegangen? Andererseits, wo sollten die Menschen denn sitzen?!

Heute war dann ein noch langweiligererererer Tag als sonst (ich bin zu müde und gelangweilt, um ein ausdrucksstärkeres Synonym für „langweilig“ zu finden, deswegen muss ich versuchen, es auf eine andere Weise zu betonen). Der Künstler kam nur ein paar mal herein, hängte einige Sachen auf und mehr passierte nicht. Am nächsten Tag  kamen einige Menschen herein, die sich die pinken Linien anschauten und drüber liefen. Ich glaube, sie waren genauso erstaunt wie ich, sowas in einer Kirche zu sehen. Dann sprachen sie mit dem Künstler und fingen an, etwas von „spiegeln das Leben wieder“ und „es gibt verschiedene Lebenswege“ zu erzählen. Daraufhin versuchte ich auch, einen Sinn in diesen pinken Linien zu finden, aber für mich bleiben es halt einfach grelle pinke, durcheinander verlaufende Linien, die mir eine äußerst aufregende Zeit beschert haben.