| Donnerstag, den 11. Juli 1991 Pünktlich um 9.00 Uhr haben sich die Schülerinnen und Schüler der Klasse 8b unter den Kastanien vor dem Freiherr-vom-Stein-Gymnasium versammelt. Dreizehn Mädchen und zwölf Jungen - Bianca Böhme ist kurzfristig erkrankt stehen reisefertig bepackt bei ihren Rädern. Es herrscht das herrlichste Sommerwetter, schon jetzt ist es sehr warm. Die begleitenden Lehrer mischen sich unter die Radler. Eine Stichprobe an einigen Rädern soll erweisen, ob die fast vierzehn Tage zuvor bei der Radinspektion gezeigten Ausrüstungsgegenstände denn überhaupt noch vorhanden sind. Die Stichprobe endet zufriedenstellend. Die wenigen fehlenden Dinge sind nicht so bedeutend, daß wir deswegen die Abfahrt aufschieben oder gar irgend jemanden nach Hause schicken müßten. Über Lippedamm und Alstedder Straße rollt die Gruppe zunächst Richtung Bork. Wir passieren den Ort im Süden und überqueren zügig die stark befahrene Straße Waltrop-Bork. Von Anfang an traumwandlerisch sicher die Streckenkenntnis Thomas Jochliks, der vorneweg führt eine große Hilfe! Von Altenbork aus durchfahren wir auf stillen Sträßchen den schönen, fast menschenleeren Sandforter Forst. Links erblicken wir bald für einen kurzen Augenblick zwischen den Stämmen und Kronen dicht stehender Bäume Schloß Sandfort, und schon kreuzen wir die Straße nach Vinnum zur anderen, westlichen Seite hinüber, wo wir, nur vierzig oder fünfzig Meter weiter, links auf einen Fußweg abbiegen, der uns zur Kanalböschung des Dortmund-Ems-Kanals und ein Stück parallel dazu führt, bis wir durch die Kanalunterführung der B 236 radeln und ein paar Kilometer danach hinter der zweiten Kanalunterführung nach rechts ins Stadtzentrum Olfen abbiegen. Irgendwo zwischen Olfen und Flaesheim führt uns Thomas Jochlik, der kein einziges Mal die Karte zu konsultieren braucht, über einen schmalen Weg am Fuße eines Bahndamms. Der Weg wird links und rechts von kräftigen Brennesselstauden gesäumt, und zum ersten Mal ist der Fahrtleiter doch froh, keine kurze Hose angezogen zu haben. Protestgeschrei mancher Schülerinnen oder Schüler. »Gut gegen Rheuma«, meint Christian Bauer philosophisch. Wir umfahren den Halterner Stausee am nördlichen Ufer und machen eine längere Pause auf einer Waldwiese. Unter Birken und Tannen suchen wir Schutz vor der Hitze des Mittags, schauen auf die stille Wasserfläche, die hier von keinem Segelboot, keinem Paddler gestört wird. Schließlich machen alle sich wieder zum Aufbruch fertig. Da kündigt eine Klassenkameradin an, sie müsse aber vorher noch austreten. Sie läuft erst einmal etwa fünfhundert Meter den schnurgeraden Waldweg zurück. Die Klasse schaut ihr frozzelnd hinterher und gibt ironische Ratschläge für die Berechnung der richtigen Entfernung und dafür, wie man wohl die Waldameisen in Schach halten könne, die auf einigen von uns während der Rast auf der Lichtung frech herumgeklettert sind. Wir fahren weiter Richtung Westen. Als wir aus den Hügeln südlich Lavesums in den Ort hinabfahren, fällt Frau Pink mit ein paar Jungen und Mädchen zurück. Was ist passiert? Die Klasse sammelt sich inzwischen an einer kleinen Tankstelle, die im Ort an der Hauptstraße liegt, und erquickt sich dort mit Getränken und Eis aus dem Automaten, was die Tankwartin zunächst freut, dann aber doch stört, denn nun können ihre Tankkunden nur von einer Seite an die eine Tanksäule heranfahren überall sind Fahrräder abgestellt, sitzen oder stehen Schüler, die den Schatten suchen. Frau Pink kommt mit Christian Bauer die Seitenstraße heruntergerollt, Christian pendelt frei mit den Beinen, er kann offenbar nicht mehr in die Pedale treten. Das Problem: Kette und Umwerfer arbeiten nicht mehr richtig zusammen, irgendein Einstellungsfehler, den der fahrradtechnisch versierte Thomas Jochlik Christians Rad ist jetzt im Schatten eines kleinen, alten Hauses neben der Tankstelle abgestellt nach kurzer Überprüfung behebt. Gleichzeitig kümmert sich Murat Uyman an der Tankstelle um einen Schleichplatten an Sonja Ziegeldorfs Rad. Murat sprüht in den Schlauch ein Dichtungsmittel ein, das Sonja vorsichtshalber mitgenommen hat. Bevor die bisher bemerkenswert beherrschte Tankwartin einen Wutanfall bekommt, räumen wir ihre Tanksäule und radeln weiter Richtung Groß Reken. Der Granat westlich des Ortes Lavesum ist mit 448 Metern die höchste Erhebung, die wir auf dem Weg nach Groß Reken zu erklimmen haben. Wir sind den Granat nur vierzig oder fünfzig Meter hinaufgefahren, als Yvonne Krusemann sich verschaltet die Kette verklemmt sich zwischen zwei Ritzeln. Die vorderen zwei Drittel der Klasse, die die Steigung zum Granat schon als recht weit auseinandergezogene Gruppe hinaufkeucht, merken nicht, daß hinten etwas passiert ist. Christian Bauer und der Fahrtleiter rollen mit Yvonne ein Stück den Berg hinunter zu einem Waldparkplatz und reparieren Yvonnes Rad. Die Kette steckt zwischen den Ritzeln, als wäre sie festgeschweißt. Vorsichtig mit einem Schraubenzieher hebelnd, gelingt es uns, sie halbzentimeterweise herauszulösen. Schließlich sitzt sie wieder auf einem der Ritzel. Als wir der Gruppe zehn Minuten später hinterherfahren, treffen wir nur noch auf Frau Pink und vier oder fünf weitere Schülerinnen und Schüler, unter denen sich allerdings nicht Thomas Jochlik mit der perfekten Ortskenntnis befindet. Was tun? Der Fahrtleiter und Frau Pink müssen sich nun mit ihrem Kartenmaterial (beim Fahrtleiter teilweise fast zehn Jahre alt) selbst orientieren. Das gelingt anfangs auch, doch nach Durchqueren eines tief sandigen Waldweges im Hülsterholt macht die Gruppe an einer Weggabelung bei Surendorf, nahe dem Gehöft Robert, im Schatten der Bäume einen Orientierungshalt. Holger Schmälzger packt seinen Krabbensalat aus und verzehrt ihn, wobei ein paar Umstehende mithelfen. Holger ist bald danach flau im Magen, aber wie er meint nur wegen der Anstrengung in der Hitze, nicht wegen des Krabbensalats. Der Orientierungsversuch der beiden Fahrtbegleiter aber führt leider zum falschen Ergebnis: Die Gruppe fährt rechts- statt linksherum (auf den Radweg F 1,3, später F 3) und findet erst nach mehrmaligem Fragen den richtigen Weg nach Groß Reken. Ankunft in der Jugendherberge 14.30 Uhr. Als erstes müssen sich die dort Wartenden eine Standpauke des Fahrtleiters anhören, weil sie am Granat nicht auf die langsameren Radler mit der Panne gewartet haben. Die elektronisch vollausgestatteten Mountain- und All-Terrain-Biker informieren uns sodann: Die gefahrene Wegstrecke von Lünen nach Groß Reken betrug zirka 60 km. Herr Fischer, der Leiter der Jugendherberge, begrüßt uns und zeigt uns die Zimmer: Petra Albert, Katrin Fehring, Sandra Schildt, Vanessa Stucht und Julia Walter beziehen ein Zimmer, das direkt auf das Treppenhaus weist und eine Tür hat, die immer mit einem entnervenden Knallen ins Schloß fällt; von den drei Etagenbetten bleibt ein Bett frei. Nicole Horn, Sibylle Kaufhold, Franziska Koch, Yvonne Krusemann, Julia Seibert, Alexandra Wientzek, Sonja Ziegeldorf und Stefanie Zobel bewohnen auf einem Nebenflur, der vom Treppenhaus abgeht, ein Zimmer mit vier Etagenbetten. Kai Hinninger, Philipp Langer, Holger Schmälzger und Sebastian Streich wird ein Zimmer im »privilegierten Leitertrakt« (so ähnlich Herr Fischer) zugeteilt, direkt neben der »Leiterdusche« für Damen und einem »Leiterschlafraum«, der erst im Laufe des Tages von ein paar fremden Erwachsenen bezogen wird. Christian Bauer, Thomas Jochlik, »Benno«-Benjamin Klisa, Sebastian Plischko, Michael Schene, Thomas Schlüchter, Martin Strumilo und Murat Uyman bewohnen ein Zimmer auf demselben Flur, auf dem auch der Fahrtleiter mit zwei anderen, ihm unbekannten Kollegen nächtigen soll. Frau Pink schließlich wird in einem kleinen Zimmer gegenüber dem Mädchenschlafraum mit der knallenden Tür untergebracht. Ihre Zimmergenossin ist eine Einzelbesucherin der Jugendherberge, die in Groß Reken einen teuren Spezial-Reitlehrgang nur für Frauen absolviert und um Kosten zu sparen sich in der Jugendherberge einquartiert hat. Das Abendessen ist angesetzt für 18.00 Uhr, es wird serviert, abgeräumt und gespült von der ersten Tischdienst-Gruppe, bestehend aus Christian, Kai, Katrin, Nicole, Petra und Thomas Jochlik. Ab 19.30 Uhr Zeit zur freien Verfügung. Es gilt die Regelung: Verlassen des Jugendherbergsgeländes nur in Dreiergruppen; späteste Rückkehr 22.00 Uhr; 23.00 Uhr auf den Zimmern; 23.30 Uhr Bettruhe, die letzteren drei Bestimmungen in Absprache mit dem hilfsbereiten und geduldigen Herrn Fischer. Während der Zeit, die die Schülerinnen und Schüler in freier Verfügung verbringen, ereignet sich einer der drei schwerwiegenden Zwischenfälle dieser Klassenfahrt: Sibylle Kaufhold wird gegen 20.30 Uhr von einem Insekt ins Auge gestochen und muß schließlich auf Anraten des örtlichen Augenarztes kurz vor 22.00 Uhr zur Universitäts-Augenklinik nach Münster gefahren werden. Von dort kommt sie gegen viertel vor zwölf wieder zurück, glücklicherweise gesund. Um zwölf Uhr, eine halbe Stunde nach der heimoffiziellen Bettruhe, geistern noch immer Schülerinnen und Schüler der Klasse 8b durchs Gebäude, besuchen einander auf den Zimmern, lassen mitgebrachte Kassettenrekorder laufen oder spielen Karten. Dem Fahrtleiter, der seit fünfzehn Stunden zuhörte, zusprach, bat, anordnete, Aufsicht führte und dabei ununterbrochen selbst unter Aufsicht stand dem Fahrtleiter reicht es, und der Fahrtbegleiterin inzwischen wohl auch. Und er beschließt, das Treiben der Schüler jetzt, nach einem Dutzend Bitten, Ermahnungen, Drohungen, ganz einfach zu ignorieren. Um halb eins zieht er sich auf das »Leiterzimmer zurück, wo schon zwei andere Lehrer in der hochsommerlich stickigen, verschwitzten Atmosphäre dieses kleinen Raumes mit seinem bloß gekippten Fenster und den schweren Vorhängen davor einen unruhigen Schlaf schlafen. Er legt sich oben in eines der zwei Etagenbetten, und bevor er schließlich einschläft, schwört er sich, wie schon mehrfach in den vergangenen zwei, drei Jahren, solcherart dienstliche Anstrengungen in Zukunft den ganz jungen Kollegen zu überlassen
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