»Gruppenzwang und Bienenstich«

Klasse 8b fährt nach Groß-Reken

(Teil 2)

Freitag, den 12. Juli 1991

Der Morgenhimmel zeigt sich bedeckt, als wollte es jeden Augenblick losnieseln, auch ist es deutlich kühler als am Abend zuvor. Kommt der angekündigte Regen schon heute morgen, um halb acht?

Das (von einigen als etwas bescheiden kritisierte) Frühstück wird serviert von der zweiten Tischdienst-Gruppe, die aus Sibylle, Benjamin, Franziska, Yvonne, Philipp und Sebastian Plischko besteht. Sie räumt anschließend die Tische ab und spült auch das Geschirr. Die Zutaten für das Lunchpaket holt die schon für die Abendmahlzeit eingeteilte dritte Tischdienst-Gruppe aus der Küche: Michael, Sandra, Thomas Schlüchter, Holger, Julia Seibert, Sebastian Streich.

Wir packen unsere Lunchpakete – es bleiben beschämend viele Brötchen, Wurst- und Käsescheiben, sogar Äpfel übrig. Den süßen Orangensaft trinken hingegen viele sofort auf. Nachdem auch noch die Räder aus dem Schuppen geholt sind, sammeln wir uns vor dem Eingang zur Jugendherberge, um zu unserer Tagestour zu den Schlössern Gemen (bei Borken), Raesfeld und (eventuell) Lembeck aufzubrechen. Wegen der noch kühlen Witterung haben einige ihre langen Hosen angezogen. Schlauere haben die kurzen Hosen an, ziehen aber einen Pullover über und nehmen vorsichtshalber die Regenpelerine mit. Während die Gruppe sich zur Abfahrt formiert, wird wegen der »unverantwortlich« langen Radelstrecke zu Zielen, die »keiner will«, von einigen Schülern heftige Kritik geübt und ein anderes Programm für diesen Tag gefordert. Die aus diesem Personenkreis angebotenen Alternativ-Tagespläne sehen z. B. eine Schnitzeljagd rund um die Jugendherberge vor, was der Fahrtleiter für einen ziemlich flauen Scherz der Vierzehn- bis Fünfzehnjährigen hält und – erneut zum Mißfallen dieser Schüler – »überhaupt nicht ernst« nimmt. Vanessa Stucht, in Tränen aufgelöst, will zunächst nicht mitfahren, weil sie Kopfschmerzen hat und ihr Stofftier vermißt, das kleine graue Nilpferd, das entweder von jemandem absichtlich versteckt oder von ihr selber verlegt worden ist. Sibylle Kaufhold bleibt auf telefonisches Anraten ihrer Mutter in der Jugendherberge zurück und wird zusammen mit Julia Walter, die sich zum Mitradeln zu unwohl fühlt und gleichfalls in der Herberge bleibt, mit der Vorbereitung des Grillabends beauftragt. Dazu nimmt Stefanie Zobel zunächst noch die Grill-Wünsche der Klasse in einer Liste auf, nach der das Grillgut samt Baguettes und weiteren Grill-Utensilien von den beiden Daheimbleibenden im Ort eingekauft werden soll.

Nach den schlechten Gruppen-Radelerfahrungen gegen Ende der Herfahrt am Tag zuvor wird vor Beginn der heutigen Tour festgelegt, daß immer der eine Lehrer voraus und der andere am Ende fährt. Das klappt auch auf dem größten Teil der Strecke dieses Tages, verhindert aber nicht, daß es in Raesfeld einmal brenzlig wird. Doch – eins nach dem anderen.

Wir starten um 10.00 Uhr und radeln zunächst irrtümlich in südöstlicher Richtung, was für das Ziel Schloß Lembeck nicht völlig falsch wäre. Doch da zuerst Burg Gemen, dann Schloß Raesfeld und zuletzt Lembeck angefahren werden soll, schlagen wir nach zwanzig Minuten einen Haken in Richtung Nordwesten. Wir erreichen bald den Ortsteil Bahnhof Reken, wo wir von der Ortsmitte aus in Richtung Westen durch den Kreulkerhok auf der Straße nach Heiden fahren, bis der Radwanderweg R 1,4 sich von der Straße löst und nach rechts in ein Waldgebiet abzweigt. Wir radeln über die Autobahn A 31 hinweg auf diesem Radwanderweg, der schließlich in bäuerliche Wirtschaftswege mündet, bis nach Heiden, von wo aus wir weiter nach Nordwesten an der Bundeswehrkaserne vorbeifahren und schließlich zwanzig vor zwölf an der Jugendburg Schloß Gemen ankommen.

Inzwischen ist es wieder hochsommerlich heiß geworden, mit Temperaturen von dreißig Grad oder mehr. Nach einer ersten gemeinsamen Orientierung im Gemener Ortskern wird vereinbart, daß die Schüler bis 13.30 Uhr den Ortskern, das Schloß und dessen unmittelbare Umgebung selbst erkunden dürfen. Für 13.30 Uhr wird eine gemeinsame Besichtigung des Schlosses und der Schloßanlagen mit architektonisch-historischen Kurzerläuterungen seitens der begleitenden Lehrer angekündigt.

Die gemeinsame Besichtigung beginnt mit dem Blick von der hölzernen Gräftenbrücke im Südwesten auf die Vorderseite der Anlage und ist angereichert mit bauhistorischen Kurzerklärungen, in denen der Fahrtleiter auf den wehrstrategischen Ursprung der gräftengeschützten Anlage um 1100 und ihre Nutzung als Wehrburg bis etwa 1400 sowie auf den sich anschließenden Umbau zu einem Wasserschloß hinweist, eine Bauentwicklung, die sich – wie Frau Pink erläutert – an der Verschiedenheit der Baustile und der Unterschiedlichkeit der zunächst militärischen, dann zivilen Zwecken dienenden Einzelgebäude nachverfolgen läßt.

Dieser ersten Betrachtung folgt ein Gang westlich um die kreisförmige Schloßgräfte herum zur Nordseite des trutzigen Gebäudekomplexes, wo die Gräfte auf einer Holzbrücke überquert und der Empfangssaal des Schlosses über eine rückwärtige Treppe und Tür betreten werden kann. Das Innere des Schlosses weist trotz starker Beanspruchung als Tagungszentrum für Jugendgruppen jedweder Herkunft immer noch Anzeichen des Strebens nach herrschaftlicher Selbstdarstellung auf, das in schrittweisen Umbauten aus der kleinen, nüchtern-funktionalen, wehrhaften Burganlage des Mittelalters ein Schloß für Wohn- und Repräsentationszwecke entstehen ließ – eine Entwicklung, die offenbar einherging mit den Veränderungen in der Kriegstechnik (Entwicklung wirkungsvoller Distanzwaffen wie Geschützen usw.). Der Empfangssaal zeigt als besondere, noch sichtbare Gestaltungsmerkmale reichverzierte Stuckdecken, einen schmiedeeisern ausgekleideten und verstärkten großen Kamin mit Sims und stützenden Steinsäulen, prächtig geschnitzte Holztüren zu den angrenzenden Räumen und – besonders auffällig – Wandsockel-Paneele aus Holz, die teilweise als Marmorimitation ausgeführt, teilweise in Nachahmung halbplastisch aus der Fläche hervortretender Reliefs bemalt sind. Mitten in dieser Pracht steht ein Fotokopiergerät, ein grell abstechender Fremdkörper, der uns daran erinnert, daß Schloß Gemen kein Museum ist. Vom Empfangssaal aus betreten wir einen prächtig ausgestatteten zweiten Saal mit Wandteppichen, kassettierten Holztüren und großem Kamin, auf dessen Sims sich verschiedene Besitzer des Schlosses mit Inschriften als (Um-) Bauherren verewigt haben. Wir verlassen das Schloß durch den Haupteingang über die nach Süden weisende, von zwei steinernen Löwen bewachte Freitreppe und besteigen um 14.00 Uhr unsere Räder mit dem Ziel Schloß Raesfeld.

Die Tour von Gemen nach Raesfeld gerät dem Fahrtleiter zum Triumph sogenannter »Instant-Kartenarbeit«: Karte lesen und danach fahren in einem Arbeitsgang. Er hat sich nämlich in Gemen kurz vor Verlassen des Ortskerns in einem Schreibwarenladen noch schnell eine allerneueste Radwanderkarte des Kreises Borken gekauft und in seinen Kartenhalter am Lenker gesteckt und navigiert jetzt ganz entspannt während des Fahrens, wobei er nur hin und wieder einen Halt benötigt. Es kann also – zunächst über Gemener Ausfallstraßen, schließlich über bäuerliche Wirtschaftswege – halbwegs zügig und über großenteils geschützte Strecken geradelt werden. Gegen zwanzig vor vier kommt die Gruppe an Schloß Raesfeld an, nachdem nur ein paar hundert Meter vorher beim Überqueren einer Vorfahrtsstraße ein Gruppenmitglied durch eigene Unachtsamkeit beinahe mit einem Audi zusammengestoßen wäre, hätte der Fahrer dieses Autos nicht durch eine Vollbremsung mit quietschenden Reifen sein Fahrzeug zum Stehen bringen können – der zweite ernste Zwischenfall auf dieser Klassenfahrt.

Wir erreichen Schloß Raesfeld etwa um 15.45 Uhr. Die Schüler erhalten Gelegenheit, sich die Anlage eine halbe Stunde lang selber anzuschauen. Die gesamte Gruppe verzichtet jedoch auf eine Erkundung und zieht es stattdessen vor, an einem Kiosk mit Stühlen und Tischen Eis zu essen und Cola zu trinken. Mit dem herrlichen Blick auf das in seiner Gräfte ruhende, von prächtigen alten Bäumen gesäumte Schloß, das von der Nachmittagssonne schön beschienen wird, schmecken Cola und Kaugummis, Eiskrem und Lollis sicher noch besser als sonst. Vor diesem Genuß müssen die Schülerinnen und Schüler sich jedoch als kritisch-mündige Verbraucher bewähren: Der Traubensaft und die Sinalco am Kiosk haben teilweise schon das Verfallsdatum überschritten und zeigen in den Flaschen nach Meinung der Schüler Spuren von Schimmel.

Da es inzwischen schon vier Uhr nachmittags ist, beschließen wir, auf die Fahrt zum Schloß Lembeck zu verzichten und von Raesfeld aus nach Groß Reken zurückzukehren. Vor der gemeinsamen Weiterfahrt rollen wir aber noch in den Werkhof der Handwerks- und Restaurationsschule, die auf Schloß Raesfeld ihren Sitz hat, und schauen uns die zu Übungszwecken nachgebauten oder restaurierten Gebäudeteile aus den verschiedensten Verwendungsbereichen und Epochen an: einen gotischen Spitzbogen, mittelalterliches Bruchsteinmauerwerk, ornamental ausgemauertes Fachwerk, ein – von woanders hierher transportiertes? – Fachwerk-Bauernhaus, von dem vorerst nur das Holzskelett aufgestellt ist.

Aus dem Werkhof kommend, radeln wir um 16.15 Uhr südlich um das Schloß herum und verlassen das Gelände an der Ostseite, indem wir die Verlängerung des Radwegstücks F 5 bis zur Bundesstraße 224 befahren, auf die wir nach rechts einbiegen, um sie an der nächsten Straßeneinmündung sogleich wieder nach links zu verlassen und so – südlich an der Roringsheide entlang – auf den Radwanderweg F 4 zu gelangen. Diesen Weg verlassen wir bald wieder, um an der nächsten T-Kreuzung rechts und beim Gehöft Schroer links auf den Radwanderweg F 1,5 einzusteuern. Beim Gehöft Oskopp folgen wir nicht dem Radwanderweg F 1,5 nach Norden, sondern fahren weiter nach Osten über die Eisenbahnlinie Borken-Dorsten hinweg zum Radwanderweg F 6, dem wir zunächst nach Süden, dann in seinem Knick nach Osten folgen. Bald macht der Wanderweg einen U-förmigen Bogen nach Süden und wieder nach Norden, den wir uns folgendermaßen ersparen: Wir verlassen den Weg F 6 an der nächsten Kreuzung und durchqueren ein Waldstück, was uns auf den nach Norden weisenden Teil des U-förmigen Bogens des Wanderweges F 6 bringt, dem wir bis zu jener Stelle folgen, da er im südlichen Teil des Waldstückes Brenner Holt (östlich der Autobahnauffahrt Reken, die wir aber nicht zu sehen bekommen) in den Radwanderweg F 1,4 übergeht. Nach einem wegen seines trockenen und stellenweise tiefen Sandes schwierigen Wegstück stehen wir mitten im Wald vor einer komplizierten Kreuzung aus den Radwanderwegen F 1, R 25 und F 4. Wir folgen hier dem Wanderweg F 4 nach Nordosten, der uns – am Hörnerhok vorbei – von Südwesten her nach Groß Reken führt. Wir sind zurück in Groß Reken kurz nach 18.00 Uhr. Über 70 km sind wir zwischen zehn und achtzehn Uhr gefahren, allerdings mit zahlreichen Pausen zwischendurch.

Der schon morgens eingeteilte Tischdienst Nr. 3 begibt sich sogleich nach der Ankunft in der Jugendherberge daran, den Abendbrottisch zu decken. Beim Abendessen sprechen alle über die soeben abgeschlossene Tagestour. Gegen deren Ende hatte sich trotz bester Vorsätze die Klasse wieder geteilt, was noch während der Fahrt zu Schuldzuweisungen der Schüler untereinander (und gegenüber dem zum Schluß etwas zu flott vorausfahrenden Fahrtleiter) und nun – nach der Rückkehr in der Herberge - zu dem Plan führt, für die Rückfahrt am nächsten Tag die Klasse von vornherein in zwei unterschiedlich schnell radelnde Gruppen einzuteilen, die jeweils von einer der beiden Begleitpersonen angeführt werden. Insgesamt scheint die heutige Tagestour einige Schüler bis an ihre körperlich-motivationalen Belastungsgrenzen, teilweise sogar darüber hinaus geführt zu haben, denn Alexandra Wientzek – um nur den herausragenden Fall zu erwähnen – ist nach der Ankunft in der Herberge so erschöpft, daß sie nach Einschätzung ihrer besorgten Klassenkameradinnen erhöhte Körpertemperatur zeigt, was von Kopfschmerzen und einem allgemeinen Schwäche- und Schwindelgefühl begleitet zu sein scheint. Sie nimmt deshalb nicht am Abendessen teil, sondern bekommt von den Zimmergenossinnen etwas ans Bett gebracht. Die Mädchen applizieren Alexandra auch etwa eine Stunde lang kalte Wadenwickel. Dies führt zu einer Rückkehr von Alexandras Kräften, so daß sie schon von halb neun an ohne Einschränkung wieder teilhaben kann an der allgemeinen Geselligkeit der Klasse auf dem Wiesengelände hinter der Herberge, wo bald der Grillabend beginnt, nachdem der Tischdienst abgeräumt und – trauriges Beispiel mangelnder Kameradschaft – Sandra Schildt schließlich ganz allein in der Küche gespült hat.

Sibylle und Julia Walter haben über den Tag alles fürs Grillen besorgt. Thomas Jochlik und Kai Hinninger setzen sich noch kurz vor 18.00 Uhr schnell aufs Fahrrad und radeln in den Ort zu einem Getränke-Shop, wo sie einen Kasten Sprudel erstehen. Ein paar andere haben inzwischen gehört, daß auch eine weitere Jugendgruppe einen Grillabend veranstalten will, und deshalb sichern wir uns eilig einen etwas rostigen, großen, soeben noch tragbaren Grill mit einem stark fettigen und rußigen Grillaufsatz, den der Fahrtleiter erst einmal mit einer von Sibylle bei den hilfsbereiten Herbergseltern ausgeliehenen Drahtbürste putzt. Anschließend begleitet er eine Gruppe von drei Schülern (Thomas Jochlik, Holger Schmälzger und Thomas Schlüchter) auf Fahrrädern mit Körben zum Feuerholzsuchen in ein nahegelegenes Waldstück, das noch nicht so völlig von Bruchholz leergesucht ist wie das unmittelbar an die Jugendherberge angrenzende. Bald brennt ein kräftiges Feuer in der Glutpfanne des Grills, und als die Flammen abgebrannt sind, grillen wir: Würstchen, Koteletts, Rumpsteak. Hierbei zeigt sich Thomas Jochlik (neben Benjamin Klisa und einigen anderen, die dazu aber meist vom Fahrtleiter dienstverpflichtet werden müssen …) als fleißigster Grill-Meister – er muß geradezu vom Grill weggedrängt werden, um nicht auch noch diese Arbeit den Klassenkameradinnen und -kameraden abzunehmen, von denen einige lieber Tischtennis spielen, manche die Jungen einer anderen Schulklasse mit genauen Blicken abschätzen, andere auf den Zimmern herumsitzen, wieder andere Volleyball spielen. Zwischendurch wird von Philipp Langer, Thomas Schlüchter und Kai Hinninger noch einmal Nachschub an Brennholz besorgt.

Um 22.00 Uhr ist alles Fleisch, sind alle Baguettes aufgegessen, ist aller Sprudel ausgetrunken. Die beiden Fahrtbegleiter verbrennen zum Schluß noch alles gesammelte Feuerholz auf dem Grill, dann versammeln wir uns in unserem Gruppenraum 3, in dem die Schülerinnen und Schüler eine Überraschung für die Fahrtbegleiter vorbereitet haben. Zunächst hält Stefanie Zobel in wohlgesetzten Worten eine kurze Ansprache, dann überreicht Murat Uyman dem Fahrtleiter ein T-Shirt mit dem Konterfei des Doors-Idols Jim Morrison auf der Vorder- und den Unterschriften aller Schüler auf der Rückseite sowie eine große Tüte mit Lakritzen, was den ansonsten übertriebener Gefühligkeit ziemlich abholden Fahrtleiter nicht wenig rührt. Frau Pink erhält ein schön gebatiktes T-Shirt und zeigt sich von so viel Aufmerksamkeit gleichfalls beeindruckt. Wir beschließen den Abend mit zwei improvisierten Programmpunkten: mit dem schottischen Freundschaftslied »Auld Lang Syne«, das Gelegenheit gibt zu einer Mini-Englisch-Lektion, da offenbar niemand in der Klasse Text und Melodie dieser sentimentalen Hymne je gehört, geschweige denn gesungen hat; und mit einer Runde des Gesellschaftsspiels »Blinzeln«, das mit nicht wenig Aufruhr und Heiterkeit so lange gespielt wird, bis alle genug haben.


Should auld acquaintance be forgot
And never brought to mind,
Should auld acquaintance be forgot
For auld lang syne.
For auld lang syne, my dear,
For auld lang syne -
We’ll drink the cup of kindness yet,
For auld lang syne.

Um 23.15 Uhr ist auch dieser Abend zu Ende, doch wie schon am Abend zuvor fällt es den allermeisten Schülerinnen und Schülern – auch denjenigen, die während des Tages über die »unverantwortliche« körperliche Belastung durch das Radfahren klagten – schwer, zur heimüblichen Ruhezeit, also um 23.30 Uhr, tatsächlich auch Bettruhe zu halten.

Ein halbwegs legitimer Grund dafür ist am heutigen Abend, daß Thomas Jochlik am 13. Juli, also gleich nach Mitternacht, Geburtstag hat und fünfzehn Jahre alt wird. Der Fahrtleiter betritt die Schlafstube, in der auch Thomas liegt, zwei oder drei Minuten vor Mitternacht, um in barschen Worten die Nachtruhe anzumahnen, und sieht, wie die Jungen mit der Uhr in der Hand den Countdown zu Thomas’ Jubeltag zählen. Als es soweit ist, wird Thomas von allen gratuliert. Dann macht der Fahrtleiter das Licht aus. Eine Viertelstunde später, beim nächsten Kontrollgang, ist erneut das Licht an in demselben Zimmer. Diesmal hält sich eine Abordnung der Mädchen darin auf, ebenfalls in der Absicht, Thomas zu gratulieren. Die Geduld des Fahrtleiters ist allerdings jetzt, nach über siebzehn Stunden Arbeit, an ihrem Ende angelangt, und ohne Rücksicht auf das hochentwickelte Gratulationsbedürfnis zarter Jungmädchenseelen wirft er die Baggage kurzerhand aus dem Zimmer, sammelt Kartenspiele und Kassettenrekorder ein. Es ist zwanzig nach zwölf oder halb eins, schon längst Zeit fürs Bett. Also überhört der Fahrtleiter, so gut er kann, das Reden, Schreien, Türenschlagen und Füßetrappeln seiner eigenen ebenso wie der zahlreichen anderen Schüler und zieht sich auf das »Leiterzimmer« zurück, in dem jetzt das Fenster nicht bloß gekippt, sondern weit geöffnet ist, was das Raumklima in dieser heißen Nacht ganz wesentlich verbessert.

Stand: 10.11.2000
Artur Weinhold

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