Selbst ein Kind von vierzehn Jahren will nicht auf seine Menschenwürde verzichten Von Ernst Yacov Levi | [
] Lünen war die Szene meiner Kindheit. Der Ort mit seinen Eigenschaften ist in meinem Gedächtnis geblieben. Nicht so die Menschen, deren Wesen und Taten. Ich erinnere mich nur an Fragmente. Mit 14 Jahren verließ ich die Stadt. Dann kam ein sehr traumatisches Jahr und danach mußte ich mir einen neuen Rahmen für mein Leben innerhalb einer besonders engen und guten Gemeinschaft schaffen. Diese Periode der intensiven Erlebnisse überdeckte alles, was darunter liegt. Außerdem legten wir bewußt die deutsche Vergangenheit ab. Wir sprachen schnell Iwrith und wollten so schnell wie möglich wieder zugehörig sein, zu unserem Volk und Heimat, anstatt derer, die uns verneint geworden war. So ist Lünen eine kleine persönliche Ecke, an der sogar meine Frau und Kinder keinen Anteil haben. Ich traf nie einen ehemaligen Lüner, das würde eine sehr unwesentliche Konnection. Meine Verbindung mit den Deutschen hat heute nur noch eine negative Seite, die nichts mit meiner Gegenwart und besonders mit der Zukunft, mit ihren Problemen und Hoffnungen zu tun hat. Vielleicht haben einige Angewohnheiten meines Wesens ihren Ursprung in Lünen (und vielleicht in Ihrer Schule). Jetzt sind 45 Jahre vergangen und die Sache ist abgelegt. Meine Reflektionen sind sehr spärlich: Ich kam auf das Gymnasium aus einer Gemeindeschule, wo Kinder aus allen Schuljahren in einem Raum mit einem Lehrer lernten. Ich hatte deshalb bessere Lernangewohnheiten wie meine Mitschüler. Ich hatte eine mir unerklärliche besondere Stellung unter meinen Klassengenossen. Ich war nie in eine Schlägerei verwickelt, ging allem Streit und boshaften Bemerkungen aus dem Wege, war also nie richtig zugehörig, aber wenn es Differenzen mit dem Ordinarius gab, wurde ich vorgeschoben, um die Klasse zu vertreten. Aus diesen Gründen war ich der letzte jüdische Schüler, der bis zum Ende des Schuljahres geduldet wurde. Die Anpöbeleien kamen immer von Schülern der »höheren« Klassen. Das Gefühl, wie einige Zeit nach der Machtergreifung der Nazis ich, meine Familie und Bekannte plötzlich ohne jeglichen Rechtsschutz jeder Anpöbelei und Handtätlichkeit ausgeliefert waren, werde ich nie vergessen. Selbst ein Kind von 10-14 will nicht und kann nicht auf seine Menschenwürde verzichten und plötzlich ein Objekt der Willkür werden. Als ich einmal Zeuge war, wie Hitlerjungen einen Priester im Ornat angriffen, verstand ich, wie tief die moralische Verkommenheit war. Ich erinnere mich, wie wir spontan unsere Hymnen sangen, als wir auf der Rheinbrücke nach Straßburg sahen, wie der letzte deutsche Uniformierte die Eisenbahn verließ, die uns nach Marseille zum Schiff führte. Es war uns gelungen von Deutschland zu entkommen. Der Preis war: Verzicht aufs Elternhaus. Meine Eltern kamen illegal 1941, alle anderen konnten nicht mehr entkommen ... Klassengefährte waren gewöhnliche Jungens. Ich gehörte keiner Klicke an und hatte meine Freunde außerhalb der Schule. Dann durfte man sich der Hitlerjugend anschließen, später mußte man. Zuerst waren es die Rabiate, dann die Charakterlosen und später dann jeder, außer denen, die aus streng katholischem Elternhaus kamen. Langsam, fast unmerklich änderte sich das Klassenklima. Was der »Führer« befahl, war gut. Sogar das Quälen von Tieren war eine der Techniken Kinder »hart« zu machen. Innerhalb kurzer Zeit war ich ein Outcast. Dass man meinem Vater nachsagte: »Jude Levi ist kein richtiger Jude«, war ein komischer Trost für mich, auch wenn man dadurch manchmal eine Ausnahme machte. Wir waren auf einem Sonntagsausflug (Fahrt) im Sauerland 1934, plötzlich umzingelte uns eine Gruppe von fremden Hitlerjungens. Sie hatten Messer und zogen sie gegen uns. Auch wenn sie diese nicht gegen uns benutzten, war die Panik groß. Das war das Ende unserer Fahrten. Selbst der Wald und die Natur waren uns versperrt. Doch auch einige gute Worte. Die Schulung war gut. Die Lehrer waren korrekt. Nur einige Lehrer in Hilfsfächern gaben mir zu verstehen, dass sie »als Deutsche« auf meine Anwesenheit in ihren Stunden verzichten könnten. Ich auch. Die Lehrer, die wirklich noch klassische und humanistische Bildung hatten, gaben zu verstehen, dass sie zwar mitmachen müssten, aber dass sie nie etwas persönlich gegen mich tun würden. So bekam ich in diesen 4 Jahren die Grundlagen für meine heutige Bildung. Nie wieder konnte ich eine regelmäßige Schule besuchen. Ich bin ein vollständiger Autodidakt. Lateinisch und Französisch halfen mir, wissenschaftliche Literatur zu verstehen und später eignete ich mir auch die englische Sprache an. Wir lernten immer, in allen Lagen. Immer hatte ich Zugang zu Büchern, selbst als das, was auf den Tisch kam, sehr knapp war. Ich bin kein Lehrer. Mein Beruf ist Schreiner. Doch seit 10 Jahren arbeite ich nur noch mit Kindern. Ich habe großen Erfolg in der Heilpädagogik. Alle Arten Kinder kommen zu mir, begabte wie auch behinderte. Ich beschäftige mich mit der Entwicklung von kognitiven Fähigkeiten. Wie formen Kinder von 10-16 Jahren ihre Begriffe, ihre Verstandesfähigkeiten und die Struktur ihres Denkvermögens? Wie benutzen sie ihre Augen und ihre Fantasie um mit der Umgebung fertig zu werden? Ich kann heute demonstrieren, wieso so viele Kinder ihr Lernvermögen verlieren und nicht mehr im Stande sind, trotz genügender Intelligenz das logische und rationelle Wesen der Wissenschaften und die Zusammenhänge der Humanistik zu verstehen. [
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