Frau Kraemer ist tot. Dies habe ich erfahren, vor wenigen Tagen – im Internet. Merkwürdig ist nicht nur der Weg, es zu erfahren, merkwürdig ist vor allem, daß es berührt. Ich hatte bei Frau Kraemer – ich weiß nicht einmal genau, wie lange – Unterricht im Fach Philosophie. Dies verpflichtet nicht zur Anteilnahme. Viele Lehrer sind mir, genauso wie viele andere Menschen, in meinem Leben begegnet, von deren Tod zu erfahren mich nicht berühren würde. Warum ist es bei einigen, warum ist es bei Frau Kraemer anders? Der Grund ist wohl darin zu suchen, daß Frau Kraemer, auch wenn einige das anders sehen mögen, nach meiner Ansicht eine ideale Lehrerin war. Eine ideale Lehrerin ist der Mensch, der zuerst einmal selbst Mensch ist und den Anderen es auch sein läßt. Dies ist nicht nur an einer Schule schwer zu finden. Frau Kraemer ist uns Schülern immer als Mensch entgegen getreten. Sie hat sich nicht versteckt hinter Unterrichtsstoff und Hierarchie. Dies müssen nur Menschen, die als Menschen Gefahr laufen, als zu leicht befunden zu werden. Daß sie dies nie fürchten mußte, machte Frau Kraemer zu einem interessanten Menschen und damit zu einer guten Lehrerin. Josef Kainz hat einmal gesagt, den Hamlet könne nur ein ernsthafter Mensch spielen, und ein ernsthafter Mensch werde nicht Schauspieler. Das gleiche Problem trifft auf den Beruf des Lehrers zu. Von ihrem Lehrer lernen und können die Schüler nur lernen, daß man im Leben gerade immer nur soviel können soll, wie man braucht, damit man eine Stelle in der Gesellschaft bekommt, an der man sich endlich für nichts mehr interessieren muß. Der Lehrer paukt ein, was er gelernt hat, um Lehrer zu werden, der Schüler lernt, um die Schule zu bestehen, damit er es dann in seinem Leben auch nicht besser macht. Frau Kraemer war da anders. Ein Lehrer sollte so sein, daß er den Schülern nicht den Stoff einpaukt, sondern so, daß er sie als Person anspricht und beeindruckt. Er muß eine Persönlichkeit sein. Nur so kann er die Schüler für das Denken und Wissen begeistern. Ein Lehrer muß Vorbild sein, indem er Wissen und das Bedürfnis nach und die Begeisterung an Wissen nicht nur von anderen verlangt, sondern selbst lebt. Frau Kraemer war der seltene Fall einer solchen Lehrerin. Frau Kraemer hat ihre Schüler ernst genommen Ich weiß, daß es Schüler und auch Lehrer gab, denen das nicht gefiel. Allein das Wort: Ernst. Ein Unwort in einer Gesellschaft, die ihre Kinder ausbilden läßt von Lehrern, die glauben, ihre Schüler zu verstehen, weil sie früher mal die Stones gehört haben. Ernst nehmen, das heißt, an sich selbst und den Anderen die höchsten Ansprüche anzulegen. Es heißt Respekt haben vor dem eigenen Menschsein und dem des Anderen. Es heißt schlicht, den Anderen nicht schlechter sein lassen, als er sein muß. Respekt heißt natürlich auch, von niemandem mehr verlangen, als er kann. Aber auch nicht weniger. Dies kann man nur, wenn man wirklich weiß, wer einem gegenübersteht. Man muß sich als Mensch einlassen, um einen Anspruch zu entwickeln, der nicht das brutale Unterwerfen unter eine künstliche Norm ist. Frau Kraemer verlangte und brauchte für guten Unterricht von ihren Schülern nicht mehr als Ernst und Interesse. Nicht Bemühen. Bemühen heißt nur tun, was andere fordern. Wenn Bemühen, dann nur als Ergebnis von Interesse und Offenheit. Schlicht ein Zuhören, das nicht nur ein Redenlassen, sondern ein Wahrnehmen des Gegenübers ist und dessen, was es zu erzählen hat, aus allen Gebieten des Wissens. Frau Kraemer hat von ihren Schülern das Höchste verlangt: Menschen zu sein. Deshalb bleibt sie im Gedächtnis bei all denen, denen mit ihr ein Mensch begegnet ist und die jetzt wissen, daß wieder ein Mensch auf der Welt fehlt. Michael Schene (Abitur 1996) |