Als Trainee in Finnland: Sebastian Streich berichtet

Aus Tampere in Finnland…
… berichtet Sebastian Streich, FSG-Ehemaliger des Abiturjahrgangs 1996 (und späterer Abiturient des Christophorus-Gymnasiums in Werne) den Schülern, Eltern, Lehrern und Ehemaligen seiner einstigen Sekundarstufen-I-Schule über den Trainee-Aufenthalt, den er in Finnland zur Zeit absolviert.
5. Mai 2001
Nach inzwischen fast einer Woche Finnland will ich mal von mir hören lassen.

Gleich zu Anfang noch eine Bitte: Auch wenn ich zur Zeit noch keinen privaten Internetzugang und meine privaten Mails noch nicht abgerufen habe, so bitte ich darum nicht an meine Arbeitsadresse (die Absenderadresse dieser Mail) zu schreiben. Ich bin zuversichtlich, dass im Laufe der nächsten Woche alle bestehenden Kommunikationseinschränkungen beseitigt sein werden und ich dann sowohl telefonisch als auch »mailmäßig« wieder erreichbar bin.

Mein Ankunftstag hier in Tampere war Sonntag, der 29.04. Der Flug (mit zweimal Umsteigen) verlief ohne Probleme oder Unannehmlichkeiten. Nur mein Koffer war leider zunächst in Frankfurt geblieben und wurde mir am Montag nachgeliefert.
Schon aus dem Flugzeug konnte ich die Merkmale Finnlands erkennen: viel Wald und viele Seen. Der Flughafen von Tampere, der ein Stück außerhalb liegt, hat ungefähr die Ausmaße eines größeren Segelflugplatzes, so dass ich keine Probleme hatte die Taxifahrerin zu finden, die mich schon erwartete. Von ihr erhielt ich dann einen Umschlag mit dem Schlüssel für mein Apartment und ein paar Stadtpläne und Karten.
Die Fahrt ging nach Hervanta, einem Vorort von Tampere, etwa 10 km vom Zentrum entfernt. Hier befinden sich neben meiner Wohnung auch die Technische Universität und ein Technologiezentrum, in dem das »NOKIA Research Center« (NRC, mein Arbeitsplatz) angesiedelt ist.
Oben: Wohnblocks in Hervanta
Links: Mein Weg zur Arbeit

Meine Wohnung ist nicht ganz so groß wie angekündigt, »nur« 3 Zimmer, 1 Badezimmer mit 2 Duschen und KEIN Geschirrspüler :.-(. Nun ja, für mich alleine ist das dennoch mehr als üppig, ab nächsten Monat zieht ein weiterer Trainee hier ein und im Juli dann noch einer. Dann reduziert sich die Miete für jeden von uns auf ein Drittel (etwa 220 DM), was für die Verhältnisse hier wirklich spottbillig ist. Hervanta selbst hat für mich ein wenig Ähnlichkeit mit Ilmenau, besonders viel ist hier nämlich auch nicht los, drumherum Natur, teilweise sehr hässliche Hochhäuser und viele Studenten. Ein wesentlicher Unterschied ist aber, dass man mit dem Bus in knapp 20 Minuten in Tampere City ist und da gibt es schon einiges zu unternehmen.

 

Am Hervanta-See
Am Montag habe ich meinem Chef, Mauri, einen Besuch abgestattet und mich von ihm durchs Labor führen lassen. Das NRC ist in einem recht neuen Gebäude und gefällt mir sehr gut. Der Umgangston ist sehr freundlich (in Finnland redet man sich ohnehin normalerweise mit dem Vornamen an) und es herrscht eine angenehme Arbeitsatmosphäre. Allerdings muss man alle naselang elektronisch gesicherte Türen mit seinem Zugangs-Chip öffnen, wenn man sich im Gebäude bewegt. In den Gängen sind Überwachungskameras montiert und abends (Gleitzeit) muss man auch noch einen PIN-Code eingeben, um ins Gebäude zu kommen. Außerdem kommt dann ab und zu der Wachdienst vorbei und scannt den Barcode auf der Mitarbeiter-Identifikationskarte. Man kann also schon von erhöhten Sicherheitsvorkehrungen sprechen. Um so erfreulicher, dass es auch Fitnessräume, offene Coffeecorners und sogar eine Sauna im Haus gibt. Aber mit alledem hatte ich am Montag noch nicht so viel zu tun, denn da war ich ja erstmal nur als Besucher im Haus (und bekam daher das Mittagessen bezahlt :-). Das Essen ist übrigens gar nicht schlecht, es gibt jeden Tag ein eher traditionell finnisches Gericht, Pizza, Pasta und ein Wok-Gericht zur Auswahl.
Der erste Mai ist in Finnland ein großer Feiertag (genannt »Vappu«) und zwar wortwörtlich FEIER-Tag. Schon am Montag hatten sich viele Finnen frei genommen dazu. Am ehesten vergleichbar ist es wohl mit dem Karneval in Deutschland. Viele Finnen färben sich die Haare bunt oder tragen albernen Kopfschmuck (zum Beispiel blinkende Teufelshörner). Ich war zunächst verwundert, als ich haufenweise junge Leute in bunten Overalls herumlaufen sah, die ähnlich wie die im Rennsport mit zahlreichen Aufnähern besetzt waren.
Photos (2): Jussi Sandqvist

Mauri erklärte mir dann, dass die Studenten je nach Studienfach eine bestimmte Farbe tragen zu besonderen Anlässen. E-Techniker tragen in Tampere blaue Overalls, Bauingenieure weiße, Maschinenbauer rote usw. Obwohl Alkohol hier sehr teuer ist, wird zum Vappu recht hemmungslos zugeschlagen. Am späten Montag Abend spazierte ich durch Tampere und war wirklich erstaunt. So viele betrunkene Menschen habe ich noch nie zuvor auf der Straße gesehen. Als ich an einer Bushaltestelle vorbeiging, versuchte ein junger Mann gerade sein Handy zu bedienen und fiel dann plötzlich der Länge nach hin. Auch als ich ihn ansprach und anstubste, blieb er regungslos liegen. Zum Glück kamen dann ein paar finnische Passanten dazu, die ihn in seiner Muttersprache anreden konnten, und er kam schließlich wieder zu sich. An diesem Abend war das keineswegs etwas Ungewöhnliches. Ansonsten sind die Finnen aber eher etwas introvertiert und zurückhaltend nach meinen bisherigen Beobachtungen.

Noch bleibt es nachts nicht hell hier. Als ich aber am Montag um Mitternacht von Tampere aus über den großen Näsijärvi-See nach Norden blickte, konnte ich es am Horizont rötlich leuchten sehen, wie sonst beim Sonnenuntergang – wirklich ein schöner Anblick. Am ersten Mai selbst war das Wetter eher bescheiden (laut Mauri ist das fast immer so), aber seitdem ist es sehr schön. Sonnenschein, frühlingshafte Temperaturen und das Gefühl, dass der Sommer schon fast in der Luft liegt :-). Ich werde mir bald ein Fahrrad zulegen, damit ich besser die Umgebung erkunden kann und auch unabhängig von den Bussen (die allerdings in der Woche ziemlich oft fahren) in die Stadt und zurück komme.

Mit dem Einkaufen habe ich bisher noch leichte Schwierigkeiten. Im Supermarkt brauche ich teilweise Fantasie, um von der Packungsbeschriftung (natürlich in Finnisch, oft auch in Schwedisch, selten in Englisch) auf den Inhalt zu schließen. Die erste Packung vermeintlichen Trinkjoghurts, die ich gekauft habe erwies sich als eine Art Fruchtkaltschale, bei der zweiten handelt es sich um normalen Joghurt, der lediglich in eine Milchtüte gefüllt und kiloweise verkauft wird. Von der einen oder anderen Überraschung abgesehen, komme ich aber ganz gut zurecht. Was die Preise angeht, so scheint es mir sehr unterschiedlich zu sein. Insgesamt habe ich bisher deutlich mehr bezahlt für meine Einkäufe als in Deutschland. Allerdings fehlt mir zur Zeit auch noch die nötige »Markttransparenz«.

Am Mittwoch habe ich dann endlich erfahren, was ich hier im nächsten halben Jahr nun genau zu tun habe. Alles »strictly confidential«, jedenfalls hat es mit neuen Entwicklungen in der Audio-Kodierung zu tun und verspricht sehr interessant zu werden. Ich habe einen Tutor, Miikka, den ich nach Herzenslust mit Fragen behelligen kann. Aber auch die anderen Mitarbeiter sind sehr hilfsbereit. Im Raum nebenan zum Beispiel stellt Ye aus China gerade seine Doktorarbeit fertig. Er hat fünf Jahre in Deutschland studiert und kann noch erstaunlich gut Deutsch, obwohl er jetzt seit sieben Jahren in Finnland ist. Er meint, er würde die finnische Sprache inzwischen soweit beherrschen, dass es für einfache Gespräche reicht... Besonders groß sind meine Ambitionen nicht, was das Erlernen der Sprache angeht. Das wird mir in der kurzen Zeit ohnehin nicht gelingen. Dennoch habe ich mich bei einem Tandemprogramm angemeldet und werde mich wohl bald mit einer finnischen Studentin treffen, die Deutsch lernt. Vielleicht kann ich von ihr ja wenigstens die Basics der finnischen Sprache vermittelt bekommen. Mit Englisch kommt man aber auch prima zurecht, nur hin und wieder gerät man mal an jemand, der das nicht beherrscht.

 

29. Mai 2001

»Ich bin zuversichtlich, dass im Laufe der nächsten Woche alle bestehenden Kommunikationseinschränkungen beseitigt sein werden....« – tja, da war ich wohl etwas zu optimistisch, als ich das vor drei Wochen vollmundig verlauten ließ. Denn privaten Internetzugang habe ich noch immer keinen. Dafür habe ich seit Freitag endlich ein Telefon, was ja schon mal ein Anfang ist. Auch ein gebrauchtes Fahrrad habe ich mir inzwischen besorgt. Es hat mich nur sagenhafte 33 DM gekostet und besitzt sogar fünf Gänge. Die Hinterradbremse habe ich heute endlich repariert und die Reste der defekten Beleuchtungsanlage demontiert. Ich denke, es wird mir den Sommer über gute Dienste leisten beim Erkunden der Umgebung, außerdem benutze ich es um zur Arbeit zu fahren.

Am Donnerstag wird mein erster Mitbewohner einziehen, Krassimir aus Bulgarien. Ich bin schon sehr gespannt. Er hat schon letztes Jahr den Sommer über bei Nokia gearbeitet und laut meinen Kollegen soll er ein sehr netter Kerl sein. Ich freue mich auf ein bisschen Gesellschaft hier in der Wohnung am Feierabend (außerdem brauche ich dann nicht immer alleine zu spülen und zu putzen :-)).

An den Wochenenden treffe ich mich öfter mit einigen der anderen Ausländern, die bei Nokia arbeiten. Am Samstag zum Beispiel war ich mit Rory in Hämeenlinna, einem für finnische Verhältnisse mittelgroßen Ort in der Mitte zwischen Tampere und Helsinki. Zugfahren scheint nicht sehr teuer zu sein hier, für die jeweils 45-minütige Hin- und Rückfahrt haben wir jeder etwa 30 DM bezahlt. Außerdem ist es sehr komfortabel, bequeme Sitze, wenig Lärm und im Gang sind an der Decke Fernseher angebracht, wo wie im Flugzeug Spielfilme gezeigt werden. Rory hat mir erzählt, dass es in den Intercityzügen sogar mehrere Radioprogramme zur Auswahl gibt, die man sich über Kopfhörer anhören kann.

Hämeenlinna ist übrigens die Geburtsstadt von Jean Sibelius, dem berühmtesten und beliebtesten finnischen Komponisten. Wir besichtigten dort die Burg Hämeen Linna aus dem 13. Jahrhundert und erfuhren bei der Führung einige interessante Details. So war es offenbar im Mittelalter vorgeschrieben (!), dass jeder Bewohner der Burg täglich 3-4 Liter Bier zu trinken hatte. Wegen der Kälte und der sonst schlechten Ernährungslage waren diese Kalorien wohl von Nöten. Außerdem besuchten wir noch das Kunstmuseum mit zeitgenössischen und klassischen Werken überwiegend finnischer Künstler, schauten uns die Stadt an und verbrachten einige sehr kurzweilige Minuten in einem Flohmarktladen.

Rory kommt übrigens aus einem Vorort von London und beendet nächsten Monat sein Praktikum, ein ganzes Jahr war er dann hier. An Ausländern arbeiten noch Javier und Lara aus Spanien, Jean-Baptiste aus Frankreich, Clarence aus Irland, Sailesch aus Indien, Alexander aus Polen und einige andere im Research Center in Tampere. Auch mehrere Deutsche habe ich inzwischen kennengelernt und es ist manchmal wirklich angenehm, wenn man sich etwas in seiner Muttersprache unterhalten kann.

Beim Einkaufen habe ich große Fortschritte gemacht. Inzwischen finde ich problemlos Vollmilch, ungesalzene Butter und Schokokekse. Am Sonntag habe ich sogar frisch gebackenes Sonnenblumenbrot bekommen. Die größeren Geschäfte haben nämlich den Sommer über auch Sonntags geöffnet, meist von 12.00 bis 18.00. Vor kurzem fiel mir eine Kuriosität im Supermarkt von Hervanta auf. Im Ausgangsbereich hinter den Kassen sind dort etliche Spielautomaten installiert, wie sie in Deutschland in manchen Kneipen an der Wand hängen, und das Interesse ist groß. Jedesmal wenn ich dort vorbeikomme, werfen einige Finnen emsig Münzen in die Apparate. Dass jemand dabei eine größere Summe gewonnen hätte, habe ich allerdings noch nicht beobachtet. Trotz dieser Teilerfolge beim Zurechtkommen ohne Kenntnis der Landessprache erlebe ich auch immer wieder Situationen, in denen das zur Einschränkung wird. Beispielsweise bietet meine Bank kostenloses Homebanking an, ich kann also ganz bequem meine Miete online überweisen... sofern ich mich auf der finnischen Webseite zurechtfinde. Das ist schon etwas abenteuerlich, zumal das Wörterbuch hier eklatante Lücken aufweist. Mit etwas Abenteuerlust (»Mal sehen was passiert, wenn ich hier klicke...«) und meinen assoziativen Fähigkeiten ist es mir dann schließlich doch noch gelungen die Transaktion auszuführen. Wer sich die Seite selbst mal ansehen möchte, nur zu, es gibt sogar eine Testkontonummer (11111111) und Testpin (123456) zum Ausprobieren: https://inetpankki.samlink.fi/sp. Das gleiche Problem habe ich jetzt, wo ich mich nach einem Provider für meinen privaten Internetzugang umsehe. Die Webseiten mit Preisen und Details sind nämlich nicht auf Englisch verfügbar. Miikka hat mir aber schon geholfen und mir einige Anbieter genannt, bei denen ich mal anrufen kann.

Einige Elemente der finnischen Kultur habe ich auch schon am eigenen Leib erfahren. Als ich mit Miikka und einem anderen Kollegen essen war, gönnte ich mir als Nachspeise Teereis. Nein, keinen Reis mit Tee, sondern Eis mit Teer! Das kann man tatsächlich essen, auch wenn ich mich etwas an Chemikalien, die einem beim Zahnarzt in den Mund geschmiert werden, erinnert fühlte. Teer hatte wohl früher große Bedeutung hier und wurde für viele Anwendungen benutzt. Mikka sagte mir, es gebe ein altes Sprichwort in Finnland, dass alles, was Teer und Sauna nicht heilen können, einen umbringt. Inzwischen wendet man aber auch hierzulande einige andere Methoden an bei der Krankenbehandlung. :-)

Eine weitere leibhaftige Erfahrung war die traditionelle finnische Rauchsauna. Dabei werden große Steine zunächst einige Stunden mit einem offenen Holzfeuer erhitzt, dann wird das Feuer gelöscht und der Rauch abgelassen. Die Sauna bleibt etliche Stunden heiß – jedenfalls im Idealfall. Leider war das nicht der Fall, als ich sie das erste mal ausprobiert habe. Irgendwas war schiefgelaufen und die Sauna war nicht heiß genug. Außerdem war der Rauch nicht richtig abgezogen bzw. das Feuer nicht richtig aus, denn der Raum glich eher einer Räucherkammer. Nach diesem Saunabesuch war dann noch ein kurzes Bad im kalten See angesagt (bei unter 10°C Lufttemperatur). Ob das alles nun eher gesund oder schädlich ist, will ich mal dahingestellt sein lassen, immerhin haben die finnischen Männer die höchste Lebenserwartung in Europa.

Über das Wetter kann ich mich eigentlich nicht beschweren bisher. Es ist zwar noch immer sehr kalt hier und die Finnen sagen, dass um diese Jahreszeit normalerweise schon höhere Temperaturen zu erwarten wären, aber trotzdem scheint meistens die Sonne und ich musste erst einmal meinen Schirm benutzen. Ich bin noch immer fasziniert von den laaaaaaaaaaaaaangen Sonnenuntergängen. Inzwischen ist es selbst um Mitternacht nicht vollständig dunkel und um 3.30 h morgens können die Laternen schon ausgeschaltet werden (wie ich jüngst nach einer ausgiebigen Party sehen konnte). Ich bin wirklich froh im Sommer hier zu sein, denn im Winter wird es dafür schon um 14:00 h dunkel und die Temperaturen gehen runter bis auf -25°C.

 

26. Juni 2001

Ich will mal wieder meinen Pflichten als Auslandskorrespondent nachkommen und die neuesten Entwicklungen aus dem hohen Norden in die Heimat übermitteln. Als erstes darf ich freudig vermelden, dass ich nun schon seit einigen Tagen eine Möglichkeit gefunden habe mich über das Mobiltelefon ins Internet einzuwählen und daher meine emails nun direkt von meinem privaten Laptop verschicken und empfangen kann. Viel mehr ist bei der dürftigen Übertragungsgeschwindigkeit (9600 bps für Fachleute :-) allerdings auch nicht drin.

Inzwischen hat sich wohnungsmäßig einiges verändert bei mir. Zunächst mal wohnt Krassimir jetzt seit fast drei Wochen mit mir zusammen. Wir verstehen uns ausgezeichnet und unternehmen sehr viel gemeinsam. Er ist 25 und studiert in Sofia Informatik. Letztes Jahr war er schonmal für drei Monate hier in Tampere und kennt sich daher recht gut aus. Zuhause wohnt er allerdings noch bei seinen Eltern und ist deshalb ein wenig unselbständig was das Hauswirtschaften betrifft. Schon von einfachsten Gerichten, die ich am Wochenende für uns zubereite zeigt er sich sehr beeindruckt. Am letzten Sonntag, als unser chinesischer Nachbar Lianchen bei uns zu Gast war, hat er allerdings sehr schmackhaften Tarator (bulgarischen Tzaziki) zubereitet und was das Ordnunghalten angeht habe wohl eher ich schlechten Einfluß auf ihn als umgekehrt. Außerdem sind wir letzte Woche umgezogen, von Appartment 3 in Appartment 2. Der Unterschied ist größer als er sich anhört, denn wir haben jetzt ein Schlaf- und ein Badezimmer mehr, eine separate Küche und ein wirklich großes Wohn/Esszimmer mit riesigem Fenster. Unsere Topfpflanze Tsetsa (laut Krassimir in Bulgarien ein typischer Name für einfache Mädchen vom Lande) hat nun endlich einen richtigen Fensterplatz bekommen. Dennoch macht sie einen leicht melancholischen Eindruck, aber wir werden weiter zu ihr halten.

Die langen Tage hier finde ich wirklich sehr angenehm, auch wenn sie die Gefahr bergen, dass man abends nicht richtig müde wird und dann zu wenig schläft wenn man am nächsten Tag morgens zur Arbeit gehen will. Obwohl wir hier eher im Süden Finnlands sind, bleibt es jetzt rund um die Uhr mehr oder weniger hell. Als Krassimir, Lianchen und ich am Samstag von einem Kinobesuch nach Hause kamen konnten wir z.B. anschließend um Mitternacht noch auf der großen Wiese hinter unserem Appartment Frisbee spielen. Bis zur Sommersonnenwende (24.06.) ist es ja auch nicht mehr lange. Juhannus, wie das Fest hier genannt wird, ist für die Finnen mal wieder ein willkommener Anlass zu hemmungslosem Alkoholkonsum, wie uns erzählt wurde. Anders als zum Vappu findet das aber nicht in der Innenstadt, sondern in den Sommerhäuschen irgendwo in der Wildnis im Kreis von Freunden oder der Familie statt. Überhaupt muss ich sagen, dass meine Vorstellungen von den Trinkgewohnheiten der Finnen mit der Realität nicht so viel zu tun haben. Festivitäten wie Vappu oder Juhannus stellen zwar fraglos Höhepunkte des Alkoholkonsums dar, aber ich bin immer wieder überrascht, wie viele Menschen man auch an einem normalen Freitag abend durch Tamperes Innenstadt wanken sieht. Vielleicht verkehre ich in Deutschland ja in den falschen Gegenden, aber in dem Maße ist mir das dort noch nirgendwo aufgefallen. Eine weitere weniger schöne Angewohnheit der Einwohner Tamperes ist das geräuschvolle Spucken auf die Straße, das sich vorwiegend bei der jungen Bevölkerung (beiderlei Geschlechts!) großer Beliebtheit zu erfreuen scheint. Obwohl Tampere von der Einwohnerzahl her die zweitgrößte Stadt Finnlands ist, gelten die Leute hier (zumindest von Helsinki aus) als ländliche Bevölkerung. Vielleicht ist das ein Zusammenhang...

Einen Besuch in Helsinki habe ich inzwischen auch gemacht. Vor zwei Wochen hatte ich dort meine ’induction’. NOKIA bietet neuen Mitarbeitern nach dem Einstieg Informationsveranstaltungen an. Für mich als Trainee ist das ein halber Tag mit Vorträgen zur Unternehmensstruktur oder zu Sicherheitshinweisen beim Umgang mit vertraulichen Informationen. Ich persönlich habe allerdings die anschließende Freizeit mehr genossen und mir mit Krassimir einiges von der Stadt angesehen. Helsinki fühlt sich wirklich wie eine Großstadt an. Mir hat es dort gefallen und ich werde auf jeden Fall nochmal hinfahren. Während in Tampere auch in der Innenstadt ständig mindestens ein hinreichend hässliches Gebäude in Sichtweite ist, gibt es in Helsinki wirklich hübsche Straßenzüge und Plätze. Einen Besuch wert ist auch der botanische Garten mitten in der Stadt. Beim nächsten mal werde ich vielleicht mit dem Schiff zur Zoo-Insel fahren oder eine Bootsrundfahrt machen.

Es gab schon ein paar sehr schöne, warme Tage hier und ich dachte, die Temperaturen würden weiter steigen. Zur NOKIA Summer Party z.B. war das Wetter optimal. Die gesamte Belegschaft von NOKIA in Tampere versammelte sich im Pyyniki-Park zu einer Open Air Party mit Livemusik und Verpflegung. Auch eine kurze Rede vom NOKIA-Chef Jorma Ollila wurde geboten. Er hat mit Krassimir, Rory, Demien, Javier und mir sogar für ein gemeinsames Foto posiert. Nach der Party sind wir dann noch in Tamperes Karaoke Bar gegangen, wo sich Lianchen (unser chinesischer Nachbar) als echter Könner erwies. Bevor wir das nächste mal dort einkehren werde ich vielleicht etwas üben :-). Inzwischen hat sich das Wetter leider wieder etwas abgekühlt und ist ziemlich regnerisch. Hoffentlich wird es am Wochenende besser. Morgen ist hier nämlich frei und Krassimir und ich wollen vielleicht einen Ausflug nach Turku machen. Die Stadt wird ziemlich leer sein, denn alle Finnen fahren, wie erwähnt, in die Ferienhäuschen in der Natur. Ursprünglich wollten Krassimir und ich nach Lappland fahren. Wir hatten uns sogar schon ein Zelt ausgeliehen. Als wir dann die Zugfahrkarten kaufen wollten waren wir allerdings geschockt. Studenten bekommen hier 50 % Rabatt auf die Zugfahrkarten, das hatten wir einkalkuliert. Wie sich herausstellte gilt das aber nur für Studenten, die an einer finnischen Hochschule eingeschrieben sind, so dass sich der Preis für uns plötzlich verdoppelte. Wir haben uns dann erst nach anderen Reisemöglichkeiten umgesehen, sind allerdings nicht fündig geworden und schließlich war es einfach zu spät. Also werden wir ein geruhsames Wochenende in Tampere verbringen und bei schönem Wetter Tagesausflüge zu näheren Zielen unternehmen.

Petros, unser dritter Mitbewohner, wird schon am Montag hier eintreffen und bei uns einziehen. Ich bin schon neugierig wie das wird, wir als internationale WG :-)

 

Stand: 05.07.2001
Artur Weinhold

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