Suizid bei Jugendlichen
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Warum wird der Suizid bei Jugendlichen häufiger?

Von Martin Loer

Der erste Grund ist die tiefgehende Veränderung, die sich in der Institution Familie vollzieht: Die Anzahl ihrer Mitglieder hat stark abgenommen; die Anzahl der Trennungen ist beachtlich (in Deutschland wird bereits jede dritte Ehe geschieden); die Wahrscheinlichkeit, in einer Familie mit nur einem Elternteil auf die Welt zu kommen, wird alles andere als gering sein. In den USA schätzt man, dass jedes dritte Kind unter solchen Bedingungen aufwächst. Aber auch innerhalb einer vollständigen Familie kann es existentielle Probleme für Jugendliche geben, etwa wenn Kindesmissbrauch durch den Vater bzw. einen engen Familienangehörigen auftritt. Zirka 60 bis 75 % der Mädchen, die sich selbst töten, haben solch eine traumatische Erfahrung hinter sich. All das bewirkt, dass ein außerordentlich bedeutsamer Faktor für die soziale und affektive Stützung fehlt – die Folgen für das psychische Gleichgewicht des Jugendlichen lassen sich erahnen. Besonders wenn andere Bezugspersonen (zum Beispiel Großeltern) fehlen, um die existentiellen Krisensituationen in der Familie zu bestehen. Diese dramatische Veränderung, die von einem fortschreitenden Verfall der sozialen Werte in ihrer Gesamtheit begleitet wird, hat sicherlich dazu beigetragen, dass die Suizidrate unter Jugendlichen ansteigt.

Der zweite Faktor ist ein kultureller Aspekt: Das Ausmaß, in dem die Idee des Suizids von Jugendlichen akzeptiert wird, hat sich verändert. Der fortschreitende Bedeutungsverlust des Wertes der (eigenen) Existenz ist offensichtlich und ist mit allem verbunden, was jede und jeder Jugendliche täglich in den Zeitungen lesen kann: Todesfälle durch eine Überdosis an Heroin, Herausforderungen zu Straßenrennen am Wochenende, verrückte Duelle von Motorradfahrern, das grauenvolle Spiel, erst kurz bevor der Zug vorbeidonnert, von den Bahngleisen aufzustehen… Auch wenn keines dieser tragischen Jugendrituale an sich mit einem Suizid vergleichbar ist (in diesen Fällen will man ja nicht sterben, man beabsichtigt nur, den Tod herauszufordern und Verachtung für das Leben, was man persönlich erfahren hat, zu demonstrieren), enthält jedes dieser angewandten Rituale auch die Botschaft einer beängstigenden Selbstzerstörung (das, was die Fachleute als »Suizidäquivalent« bezeichnen), die ihrerseits ein Synonym für das Akzeptieren der Todeskultur ist.

Generell gesagt: In einem Leben, das an Wert ständig verliert, wächst die Bedeutung der Todespraktiken und -ideen bei Jugendlichen.

  Die obige Darstellung folgt Paolo Crepets Monographie Das tödliche Gefühl der Leere: Suizid bei Jugendlichen (Hamburg: Rowohlt-Taschenbuchverlag, 1996).
 
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Stand: 09.06..2006
Artur Weinhold

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