Zur Erinnerung an Yacov Levi (Teil I)
HomePfeilWissenswertesPfeilZur Erinnerung an Yacov Levi I | II | III | IV | V
 

Ernst Jakob Levy, ein Lüner Junge aus der Langen Straße, war der letzte jüdische Schüler, der im »Dritten Reich« am FSG unterrichtet wurde. Zu Ostern 1937 musste er nach der Versetzung in Obertertia (heute Klasse 9) das FSG verlassen.

Herr Gerd Blumberg, selbst FSG-Ehemaliger des Abiturjahrgangs 1962, dessen Familie über das Ende des »Dritten Reichs« hinaus mit der Familie Levi befreundet blieb, sammelte Fakten und Dokumente zum Leben Yacov Levis, der nach Palästina entkommen konnte, dort seinen deutschen Vornamen »Ernst« ein für allemal ablegte, jahrzehntelang als Schreiner und Pädagoge arbeitete und in Israel im März 2012 verstarb.

Mit freundlicher Genehmigung Herrn Blumbergs geben wir hier den von ihm verfassten Lebensbericht Yacov Levis wieder. Red.

   
Yacov Levi: Die Geschichte seines Lebens – erzählt von Gerd Blumberg, Münster Yacov Levi wurde am 1. März 1923 in Lünen als Sohn von Paul und Lina Levi geboren, die mitten im Zentrum von Lünen am Alten Markt eine Metzgerei besaßen. Im Elternhaus in der Langen Straße 49, in dem Yacov aufwuchs, hatte schon sein Großvater eine Fleischerei-Filiale betrieben und sie im Jahr 1912 dem Sohn – Yacovs Vater – übertragen. In den 1920-er Jahren lief das Geschäft gut, Paul Levi war anerkannt und wurde in den Innungsvorstand gewählt. Die Metzgerei und die Wurstfabrikation befanden sich im Erdgeschoss, oben wohnte die Familie.
  Metzgerei Levi
  Das Foto von 1927 zeigt Haus und Geschäft des Metzgermeisters Paul Levy auf der Langen Straße. Ab 1939 wurde von den Nazi-Behörden und auch von der Familie selbst der Nachname nur noch in der Schreibweise »Levi« genutzt.
 
Yacov und Else Levi Yacov wuchs daher anfangs zusammen mit seiner älteren Schwester Else (s. nebenstehendes Bild von 1924) in gesicherten Verhältnissen auf. Seine Mutter schickte ihn zunächst in einen Montessori-Kindergarten und dann besuchte er vier Jahre lang die jüdische Volksschule, die sich damals neben der evangelischen Stadtkirche in der Kirchstraße 30 befand, wo in einem Haus Synagoge und ein Schulraum untergebracht waren. Dort wurden Kinder aus allen Schuljahren gemeinsam von einem Lehrer unterrichtet.
  Während einer Sportstunde entstand – vermutlich im Jahr 1932 – das Bild mit dem Lehrer Manfred Höxter und 16 Kindern der jüdischen Schule. Yacov ist der genau in der Bildmitte breitbeinig stehende Junge.
 
 
Yacov mit Mutter Lina Yacov mit seiner Mutter Lina etwa im Jahr 1930.
Übergang zum Freiherr-vom-Stein-Realgymnasium 1933 wechselte Yacov zum Freiherr-vom-Stein-Realgymnasium, das zwei Jahre vorher in einen Neubau an der Jahnstraße in Lünen umgezogen war.
  Das FSG im Jahre 1931
 
  Abbildung der Ruhr-Nachrichten v. 27.6.1997
  Wie seine Schwester, die von 1923 bis 1927 das Lüner Gymnasium, die Höhere Mädchenschule, besucht und danach auf der deutschen Auslandsschule in Davos (Schweiz) 1930 die Obersekundareife erlangt hatte, sollte auch Yacov einen höheren Bildungsabschluss erreichen. Sein Start am Stein-Gymnasium fiel jedoch zusammen mit Hitlers Machtantritt, der sich auch auf die jüdischen Schüler auswirkte.
Der letzte jüdische Schüler muss das FSG verlassen Waren im Sommer 1933 noch neun jüdische Schüler am Gymnasium, verließen bis Ende des gleichen Jahres vier von ihnen die Schule. Und im Schuljahr 1936/37, als Yacov die 4. Klasse (die Untertertia, heute: Klasse 8) besuchte, ist er der letzte jüdische Schüler. Am Ende dieses Schuljahres wurde dann auch ihm der weitere Besuch der Schule verwehrt und mit seiner Versetzung in die Obertertia musste er Ostern 1937 das Stein-Gymnasium verlassen. Das Abgangszeugnis, das ihm gute Leistungen u.a. in den Fächern Deutsch, Latein und Mathematik bescheinigte sowie dass »er sich charakterlich in der Klasse stets strebsam gezeigt hat«, gab an, dass »er jetzt ausscheidet, um einen Beruf zu ergreifen«.
 
FSG-Abgangszeugnis Yacov Levi
 

Viele Jahre später erinnerte sich Yacov in einem Brief von 1982 (abgedruckt in der Festschrift 75 Jahre Freiherr-vom-Stein-Gymnasium Lünen: 1907-1982. Beiträge zu seiner Geschichte, S. 102 ff.), dass »die Schulung gut war und er in diesen 4 Jahren die Grundlage für seine heutige Bildung bekam«. Er schrieb u.a.: »Ich kam auf das Gymnasium aus einer Gemeindeschule, wo Kinder aus allen Schuljahren in einem Raum mit einem Lehrer lernten. Ich hatte deshalb bessere Lerngewohnheiten wie meine Mitschüler. Ich hatte eine mir unerklärliche besondere Stellung unter meinen Klassengenossen. Ich war nie in eine Schlägerei verwickelt, ging allem Streit und boshaften Bemerkungen aus dem Wege, war also nie richtig zugehörig, aber wenn es Differenzen mit dem Ordinarius [d. h., dem Klassenleiter; Anm. d. Red.] gab, wurde ich vorgeschoben, um die Klasse zu vertreten. Aus diesem Grunde war ich der letzte jüdische Schüler, der bis zum Ende des Schuljahres geduldet wurde«.

Auch ein Kind will nicht Objekt der Willkür werden Der junge Schüler bemerkte jedoch, wie »sich das Klassenklima langsam, fast unmerklich änderte« und er »innerhalb kurzer Zeit ein Outcast war«: Das Gefühl, wie einige Zeit nach der Machtergreifung ich, meine Familie und Bekannte plötzlich ohne jeglichen Rechtsschutz jeder Anpöbelei und Handtätlichkeit ausgeliefert waren, werde ich nie vergessen. Selbst ein Kind von 10-14 will nicht und kann nicht auf seine Menschenwürde verzichten und plötzlich ein Objekt der Willkür werden«.

Den frühzeitigen Abbruch der Schule kommentierte seine Mutter Lina in ihrem 1960 verfassten »Lebensbericht« (veröffentlicht in der Schrift Geschichte der Juden in Lünen, Stadtarchiv Lünen, 1988, S. 174 ff.): »Auch unser Sohn wurde aus seinem von uns vorgesehenen Gang geschleudert und musste mit knapp 14 Jahren das Gymnasium verlassen«.

Frau Levi schickte ihren Sohn noch im gleichen Jahr nach Bonn in eine Schreinerei, wo er eine Zeit lang das Tischlerhandwerk lernen und auf die Auswanderung nach Palästina vorbereitet werden sollte. Die »Möbelwerkstätten Grünfass & Zelasny«, wo er vom 10.4.1937 bis 31.1.1938 beschäftigt wurde, bescheinigten ihm: »er war ehrlich, fleissig und treu und wir waren mit seinen Leistungen in jeder Weise zufrieden, so dass wir ihn überall empfehlen können«.

  Möbelwerkstatt Grünfass
 
  Weiter zu Teil II
 

11.01.2013
Artur Weinhold

HomePfeilWissenswertesPfeilZur Erinnerung an Yacov Levi I | II | III | IV | V